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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Unternehmer und reaktionäre Lehrer erschießen. Wir sollten auf die Raubtierjagd gehen, sagte sie. Niemand hat auf sie gehört. Es war einfach zu grobschlächtig. Wir zogen es vor, auf uns selbst zu schießen und Salz in unsere Wunden zu streuen. Sie hat dem Stadtratsvorsitzenden eines Tages einen Eiskübel über dem Kopf ausgeleert. Und wurde gefeuert. Sie ist auch tot.«
     
    »Das wusste ich nicht.«
     
    »Sie soll zu ihrem Mann gesagt haben, dass die Züge nicht pünktlich fahren würden. Er verstand nicht, was sie meinte. Dann fanden sie sie auf den Bahngleisen bei Arlöv. Sie hatte sich in eine Wolldecke gewickelt, damit es für die Krankenwagenbesatzung nicht so grässlich würde.«
     
    »Warum hat sie es getan?« »Niemand weiß das. Sie hatte nur einen Zettel auf dem Küchentisch hinterlassen: ›Ich nehme den Zug.‹« 
    »Aber du bist Professorin geworden. Und ich bin Richterin.«
     
    »Karl-Anders? Erinnerst du dich an den? Der den Gedanken hasste, eine Glatze zu kriegen? Der fast nie einen Ton sagte? Aber immer erschien er als Erster zu allen Treffen. Er ist Pastor geworden.«
     
    »Das ist doch nicht möglich.«
     
    »Freikirchenpastor beim Schwedischen Missionsverbund. Und er ist es immer noch. Im Sommer reist er durchs Land und predigt in einem Zelt.«

    »Der Schritt war vielleicht gar nicht so weit?«
     
    Karin Wiman wurde ernst. »Ich denke doch, dass es ein weiter Schritt war. Wir sollten nicht die vergessen, die den Kampf für eine andere Welt weitergeführt haben. Mitten in dem ganzen Chaos, in dem die politischen Theorien sich überschlugen, gab es doch immer die Zuversicht, dass die Vernunft am Ende siegen würde. War es für dich nicht so? Ich weiß jedenfalls noch, dass wir oft darüber gesprochen haben. Dass die Aufklärung am Ende triumphieren muss.« 
    »Das stimmt. Aber was damals so einfach erschien, ist immer komplizierter geworden.«
     
    »Sollte uns das nicht umso mehr anspornen?«
     
    »Sicher. Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Aber ich beneide alle, die ihre Ideale nie aufgegeben haben. Oder vielleicht besser ihr Bewusstsein. Das Bewusstsein dessen, wie die Welt aussieht. Und warum. Die immer noch Widerstand leisten. Es gibt sie ja noch.«
     
    Sie machten zusammen Abendessen. Karin erzählte, dass sie in einer Woche nach China reisen wollte, um an einer Konferenz über die frühe Qin-Dynastie teilzunehmen, deren erster Kaiser China zu einem Reich einte.
     
    »Wie war es für dich, ins Land deiner Jugendträume zu kommen?«
     
    »Ich war neunundzwanzig, als ich zum ersten Mal nach China reiste. Da war Mao schon tot, und alles veränderte sich. Es war eine große und tiefgreifende Enttäuschung. Peking war eine kalte und feuchte Stadt. Die Tausende von Fahrrädern zirpten wie die Grillen. Dann spürte ich, dass trotz allem im Lande eine unerhörte Umwälzung stattgefunden hatte. Die Menschen hatten Kleidung und Schuhe. In der Stadt sah ich niemanden, der hungerte, niemanden, der bettelte. Ich weiß noch, dass ich mich schämte. Ich, die ich aus dem hiesigen Reichtum nach China geflogen kam, hatte nicht das Recht, die Entwicklung mit Verachtung oder Arroganz zu betrachten. Ich begann den Gedanken an die chinesische Kraftprobe wieder zu lieben. Damals beschloss ich endgültig, mich auf dieses Fach zu konzentrieren und Sinologin zu werden. Vorher hatte ich etwas anderes im Kopf gehabt.«
     
    »Was denn?«
     
    »Du wirst es nicht glauben.«
     
    »Versuch's!«
     
    »Ich wollte Berufssoldatin werden.«
     
    »Warum denn das?«
     
    »Du bist Richterin geworden. Warum denkt man gewisse Gedanken?«
     
    Nach dem Abendessen kehrten sie in den Wintergarten zurück. Lampen leuchteten über den Schnee. Karin hatte ihr einen Pullover gegeben, denn es wurde kalt. Sie hatten Wein zum Essen getrunken. Birgitta fühlte sich angesäuselt. »Komm doch mit nach China«, sagte Karin. »Der Flug kostet heutzutage nicht mehr die Welt. Ich bekomme bestimmt ein großes Hotelzimmer. Wir können es teilen. Das haben wir schon früher gemacht. Bei unseren Sommerlagern haben wir beide und noch drei andere in einem kleinen Zelt geschlafen. Wir lagen fast übereinander.«
     
    »Ich kann nicht«, sagte Birgitta. »Ich bin sicher wieder gesund.«
     
    »Komm mit. Deine Arbeit kann warten.«
     
    »Lust hätte ich. Aber du fährst doch sicher bald wieder?« 
    »Das schon. Aber in unserem Alter soll man nicht unnötig lange warten.« 
    »Wir werden noch lange leben. Wir werden alt.« Karin

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