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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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angehört, um es wagen zu können, sich eine Meinung über die Tragkraft seiner Auffassung zu bilden. Robertsson glaubte, dass er recht hatte. Und ordentliche Staatsanwälte bauten ihre Anklagen nie auf Offenbarungen oder Vermutungen auf, sondern auf Tatsachen.
     
    Es war eigentlich zu früh, eine Schlussfolgerung zu ziehen. Dennoch tat sie es. Der Mann, den man jetzt verhaftet hatte, war wahrlich kein Chinese. Ihre Entdeckungen verloren langsam ihren Sinn. Sie ging in ihr Arbeitszimmer und packte die Tagebücher wieder in die Plastiktüte. Es gab keinen Grund mehr, weiter die rassistischen und menschenfeindlichen Äußerungen des widerwärtigen Mannes in uralten Tagebüchern zu studieren.
     
    Am Abend aß sie gemeinsam mit Staffan eine späte Mahlzeit. Nur mit wenigen Worten berührten sie die Ereignisse des Tages. In den Abendausgaben der Zeitungen, die er vom Zug mit nach Hause brachte, standen keine anderen Informationen als die, die sie schon kannte. Auf einem Foto von einer Pressekonferenz erkannte sie Lars Emanuelsson, der die Hand erhoben hatte, um eine Frage zu stellen. Es schauderte sie beim Gedanken an ihre Begegnungen. Sie erzählte Staffan, dass sie am nächsten Tag zu Karin Wiman fahren und wahrscheinlich die Nacht bei ihr verbringen würde. Staffan kannte Karin und auch ihren verstorbenen Mann. »Tu das«, sagte er. »Es wird dir guttun. Wann ist dein nächster Arzttermin?«
     
    »In fünf Tagen. Er wird bestimmt sagen, dass ich wieder gesund bin.«
     
    Am nächsten Tag, als Staffan zum Zug gegangen war und sie gerade ihre Tasche packte, klingelte das Telefon. Es war Lars Emanuelsson.
     
    Sie war sofort wachsam. »Was wollen Sie? Woher haben Sie meine Telefonnummer? Sie ist geheim.«
     
    Lars Emanuelsson kicherte. »Ein Journalist, der nicht weiß, wie man eine Telefonnummer herausfindet, so geheim sie auch sein mag, sollte den Beruf wechseln.«
     
    »Was wollen Sie?«
     
    »Einen Kommentar. Große und umwälzende Dinge geschehen in Hudiksvall. Ein Staatsanwalt, der sich seiner nicht allzu sicher zu sein scheint, der uns aber trotzdem in die Augen sieht. Was sagen Sie dazu?«
     
    »Nichts.«
     
    Lars Emanuelssons Freundlichkeit, ob sie nun gespielt war oder nicht, verschwand. Sein Ton wurde schärfer und ungeduldiger. »Kommen Sie mir nicht wieder mit dieser alten Leier. Antworten Sie auf meine Fragen. Sonst schreibe ich über Sie.«
     
    »Ich habe nicht die geringsten Informationen über das, was der Staatsanwalt erklärt hat. Ich bin genauso überrascht wie alle anderen Schweden.«
     
    »Überrascht?«
     
    »Nehmen Sie irgendein Wort. Überrascht, erleichtert, gleichgültig, was Sie wollen.«
     
    »Jetzt kommen ein paar einfache Fragen.«
     
    »Ich lege jetzt auf.«
     
    »Wenn Sie das tun, schreibe ich eben, dass eine Richterin aus Helsingborg, die kürzlich Hals über Kopf aus Hudiksvall abgereist ist, sich weigert, Fragen zu beantworten. Ist Ihr Haus schon einmal von Journalisten belagert worden? Es ist ganz leicht, so etwas zu organisieren. Früher konnte man hierzulande mit gezielter Verbreitung von Gerüchten in kurzer Zeit einen Lynchmob zusammenbringen. Eine Meute aufgebrachter Journalisten unterscheidet sich nur wenig von einem solchen Mob.«
     
    »Was wollen Sie?«
     
    »Antworten. Warum waren Sie in Hudiksvall?«
     
    »Ich bin mit einigen der Toten verwandt. Mit welchen, sage ich nicht.«
     
    Sie hörte, dass er schwer atmete, während er überlegte oder ihre Antwort notierte. »Das dürfte stimmen. Und warum sind Sie abgefahren?«
     
    »Weil ich wieder nach Hause wollte.« 
    »Was war in der Plastiktüte, die Sie aus dem Polizeipräsidium mitgenommen haben?« Sie zögerte, bevor sie antwortete. »Ein paar Tagebücher, die einem Verwandten gehört haben.«
     
    »Ist das wahr?«
     
    »Es ist wahr. Wenn Sie nach Helsingborg kommen, halte ich Ihnen eins davon durch die Tür hinaus. Melden Sie sich.« 
    »Ich glaube Ihnen. Sie müssen verstehen, dass ich nur meine Arbeit mache.«
     
    »Sind wir jetzt fertig?«
     
    »Kann man so sagen.«
     
    Birgitta Roslin knallte den Hörer auf die Gabel. Das Gespräch hatte sie ins Schwitzen gebracht. Aber die Antworten, die sie gegeben hatte, waren wahr und zugleich erschöpfend gewesen. Lars Emanuelsson würde nichts haben, worüber er schreiben könnte. Aber seine Hartnäckigkeit imponierte ihr irgendwie, und sie sagte sich, dass er wohl ein ziemlich fähiger Reporter war.
     
    Obwohl es einfacher für sie gewesen wäre, die

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