Der Chinese
nach der Opernvorstellung erkannt zu haben glaubte, musste sie sich eingebildet haben. Ihre Phantasie ging manchmal mit ihr durch und überraschte sie selbst, obwohl sie eigentlich daran gewöhnt sein müsste. Sie saß im Foyer, wo dienstbare Geister mit Staubwedeln lautlos die Marmorpfeiler putzten. Sie fühlte sich irritierend antriebsschwach und nahm sich vor, ein Kaufhaus zu suchen, in dem sie ein chinesisches Brettspiel kaufen konnte. Sie hatte Staffan auch versprochen, Gewürze mitzubringen. Ein junger Portier zeichnete ihr auf einem Stadtplan den Weg zu einem Kaufhaus ein, wo es beides gab, Brettspiele und Gewürze. Nachdem sie in der Bank des Hotels Geld gewechselt hatte, machte sie sich auf den Weg. Es war weniger kalt als am Vortag. Leichte Schneekörner wirbelten durch die Luft. Sie zog ihr Halstuch vor Mund und Nase und ging los. Nach ein paar Metern blieb sie stehen und sah sich um. Menschen bewegten sich auf dem Bürgersteig in verschiedene Richtungen. Sie betrachtete diejenigen, die stillstanden, rauchten, in Handys sprachen oder nur einfach warteten. Aber nirgendwo sah sie ein Gesicht, das sie kannte. Sie brauchte fast eine Stunde bis zum Kaufhaus. Es lag an einer Fußgängerstraße, die Wangfuijing Dajie hieß. Es nahm fast einen ganzen Block ein und wirkte, als sie durch die Türen eintrat, wie ein gewaltiges Labyrinth. Sofort war sie von dichtem Gedränge umgeben. Sie merkte, dass die Menschen um sie her sie forschend betrachteten und ihre Kleidung und ihr Aussehen kommentierten. Vergebens suchte sie nach einem Hinweis auf Englisch. Als sie sich zu einer der Rolltreppen durchdrängte, wurde sie von mehreren Verkäufern in schlechtem Englisch angerufen.
In der dritten Etage fand sie eine Buch- und Papierwarenabteilung mit Spielsachen. Sie sprach eine junge Verkäuferin an, die jedoch im Gegensatz zu dem Personal im Hotel nicht verstand, was sie sagte. Die Verkäuferin sagte etwas in ein Haustelefon, und kurz darauf stand ein älterer Mann neben ihr und lächelte.
»Brettspiele«, sagte Birgitta. »Wo finde ich die?«
»Mah Jong?«
Er zeigte ihr den Weg zu einem anderen Stockwerk, wo sie plötzlich von Regalen mit verschiedenen Brettspielen umgeben war. Sie suchte zwei aus, dankte ihm für die Hilfe und ging zu einer der Kassen. Als die Spiele verpackt und in eine große farbenfrohe Plastiktüte gelegt waren, suchte sie allein die Nahrungsmittelabteilung, wo sie durch Riechen eine Anzahl unbekannter Gewürze in kleinen schönen Papiertüten heraussuchte. Anschließend setzte sie sich in einen Imbiss neben dem Ausgang. Sie trank Tee und aß ein Gebäck, das so süß war, dass sie es fast nicht schlucken konnte. Zwei kleine Kinder kamen an ihren Tisch und starrten sie an, bevor sie von ihrer Mutter an einem angrenzenden Tisch brüsk zurückgerufen wurden.
Als Birgitta Roslin aufstehen wollte, bekam sie wieder das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie sah sich um, versuchte verschiedene Gesichter zu fixieren, fand aber keins, das sie kannte. Es ärgerte sie, dass sie von diesen Einbildungen heimgesucht wurde, und sie verließ das Kaufhaus. Weil die Plastiktüte schwer war, nahm sie ein Taxi zum Hotel zurück und überlegte, was sie während des restlichen Tages unternehmen könnte. Karin konnte sie erst spät am Abend treffen, nach einem obligatorischen Festessen, dem Karin gern ferngeblieben wäre, aber nicht fernbleiben durfte. Als sie die Spiele und Gewürze ins Hotel gebracht hatte, beschloss sie, das Kunstmuseum zu besuchen, an dem sie am Vortag vorbeigegangen war. Den Weg dorthin kannte sie also schon. Sie erinnerte sich, mehrere Restaurants gesehen zu haben, wo sie essen konnte, wenn sie hungrig wurde. Es hatte jetzt aufgehört zu schneien, die Wolkendecke war aufgerissen. Sie fühlte sich plötzlich jünger, energischer als am Morgen.
Gerade jetzt bin ich der rollende Stein, von dem wir geträumt haben, als wir jung waren, dachte sie. Ein rollender Stein mit steifem Nacken.
Das Hauptgebäude des Museums sah aus wie ein chinesischer Turm mit kleinen Absätzen und vorspringenden Dachteilen. Die Besucher traten durch zwei mächtige Portale ein. Weil das Museum so groß war, beschloss sie, nur das Untergeschoss anzusehen. Dort lief eine Ausstellung darüber, wie die Befreiungsarmee des Volkes die Kunst als Propagandawaffe eingesetzt hatte. Die meisten Gemälde waren in der idealisierten Weise ausgeführt, die sie aus den Bildzeitschriften der 1960er Jahre aus China
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