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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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hatte sich die Befürwortung der Todesstrafe in der chinesischen Gesellschaft darin manifestiert, dass die Verurteilten auf offenen Lastwagen abtransportiert wurden. Die Hinrichtungen hatten vor großem Publikum stattgefunden, das entscheiden durfte, ob der Gefangene erschossen oder begnadigt wurde. Aber die Menschen, die sich bei solchen Gelegenheiten versammelten, wollten keine Begnadigung. Sie wollten, dass die Männer und Frauen, die mit gesenktem Kopf vor ihnen standen, mit dem Tode bestraft wurden. In späteren Jahren waren die Exekutionen immer verschwiegener vorgenommen worden. Nur Filmer und Fotografen, die vom Staat kontrolliert wurden, durften dabei sein, um zu dokumentieren, wie die Gefangenen hingerichtet wurden. Erst im Nachhinein teilten die Zeitungen mit, dass die Verbrecher ihre Strafe erhalten hatten. Um die oftmals geheuchelte Empörung des Auslands nicht unnötig hervorzurufen, wurden die Erschießungstermine für gewöhnliche Gewaltverbrecher nicht mehr öffentlich bekanntgegeben. Außer den chinesischen Behörden kannte niemand mehr die genaue Zahl vollzogener Hinrichtungen. Öffentlichkeit war nur erlaubt, wenn es um Verbrecher wie Shen Wixan ging, denn ihre Strafen dienten als Warnsignal für andere hohe Beamte und Unternehmer und dämpften gleichzeitig die zunehmende Unzufriedenheit des Volkes mit einer Gesellschaft, die solche Korruption erst möglich machte. Das Gerücht über die bevorstehende Vollstreckung des Todesurteils gegen Shen Wixan verbreitete sich schnell in den politischen Kreisen Pekings. Eine von denen, die es erfuhren, war Hong Qiu; sie hörte von der Entscheidung des Gerichts schon wenige Stunden später. Sie kam gerade aus einer Versammlung von Parteigenossinnen, als ihr Mobiltelefon klingelte, und wies den Chauffeur an, am Straßenrand zu halten, während sie über die Nachricht nachdachte. Hong kannte Shen Wixan nicht, war ihm nur einmal vor ein paar Jahren auf einem Empfang der französischen Botschaft begegnet. Sie hatte ihn nicht gemocht, intuitiv hatte sie geahnt, dass er gierig und korrupt war. Aber als ihr Wagen jetzt am Straßenrand hielt, dachte sie daran, dass Shen Wixan ein enger Freund ihres Bruders Ya Ru war. Natürlich würde Ya Ru sich jetzt von Shen distanzieren und leugnen, ihn mehr als nur flüchtig gekannt zu haben. Aber Hong wusste, dass es sich anders verhielt.
     
    Sie fasste einen schnellen Entschluss und wies den Chauffeur an, sie zu dem Gefängnis zu bringen, wo Shen seine letzten Stunden verbrachte. Hong kannte den Gefängnisdirektor. Wenn seine Vorgesetzten ihn angewiesen hatten, keinen Besucher hereinzulassen, würde sie Shen kaum treffen können. Aber es war möglich, dass er es trotzdem erlaubte. Was denkt einer, der zum Tode verurteilt ist, überlegte sie, während sich der Wagen einen Weg durch den chaotischen Verkehr suchte. Sie war überzeugt, dass Shen unter Schock stand. Soweit sie gehört hatte, war er kaltblütig und rücksichtslos, gleichzeitig aber sehr vorsichtig. Jetzt jedoch hatte er die Konsequenzen seines Handelns falsch eingeschätzt. Hong hatte viele Menschen sterben sehen. Sie hatte Enthauptungen, Hinrichtungen am Galgen und Erschießungen beigewohnt. Hingerichtet zu werden, weil man den Staat betrogen hatte, war der sinnloseste und verächtlichste Tod, den sie sich vorstellen konnte. Wer wollte schon per Genickschuss auf dem Müllhaufen der Geschichte landen? Sie schauderte bei dem Gedanken. Aber sie gehörte nicht zu denen, die die Todesstrafe ablehnten. Sie betrachtete sie als notwendiges Instrument des Staates, um sich zu schützen, und hielt es für richtig, Schwerverbrechern kein Recht mehr einzuräumen, in einer Gesellschaft zu leben, der sie nur mit Verachtung begegnet waren. Mit Menschen, die Vergewaltigungen und Raubmorde begingen, hatte sie kein Mitgefühl. Selbst wenn sie arm waren und ihre Anwälte mildernde Umstände geltend machen konnten, ging es im Leben doch darum, persönliche Verantwortung zu übernehmen. Wer es nicht tat, musste mit den Konsequenzen rechnen, im äußersten Fall mit dem Tod.
     
    Das Auto hielt vor dem Gefängnistor. Ehe Hong die Tür öffnete, überprüfte sie den Bürgersteig durch die dunkle Scheibe. Sie sah einige Leute, die sie für Journalisten oder Fotografen hielt. Dann stieg sie aus und lief zur Tür in der Mauer neben dem hohen Tor. Ein Gefängniswärter öffnete und ließ sie ein.
     
    Es dauerte fast dreißig Minuten, bis sie von einem Wärter tiefer in das labyrinthische

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