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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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wohnten und der Boden gerodet und urbar gemacht war, standen in scharfem Kontrast zu den endlosen Weiten, die völlig unberührt schienen. Hong fragte sich, ob sie sich nicht doch irrte. Vielleicht tat China etwas für Mosambik, ohne auf einen um ein Vielfaches größeren Gegenwert zu bauen?
     
    In dem Motorenlärm war es ihr unmöglich, ihre Gedanken zu sammeln. Ihre Frage blieb unbeantwortet.
     
    Bevor sie in den Helikopter gestiegen war, hatte man ihr eine kleine Karte gegeben. Sie erkannte sie wieder. Es war die Karte, die die beiden Männer aus dem Landwirtschaftsministerium während der Autofahrt von Beira vor sich gehabt hatten.
     
    Sie erreichten den nördlichsten Punkt und drehten dann nach Osten ab. Als sie nach Loabo kamen, machten die Helikopter einen Bogen über dem Meer und landeten dann in der Nähe eines Ortes, den Hong auf der Karte als Chinde identifizierte. Am Landeplatz warteten wieder Autos, die Straßen bestanden wie zuvor aus roter Erde.
     
    Sie fuhren in die Buschlandschaft und hielten an einem kleinen Nebenfluss des Sambesi. Der Platz, an dem die Autos stoppten, war von Busch und Unterholz befreit. Einige Zelte waren im Halbkreis am Fluss aufgestellt.
     
    Als Hong aus dem Helikopter stieg, stand Ya Ru da und nahm sie in Empfang. »Willkommen in Kaya Kwanga. Es bedeutet ›Mein Heim‹ in einer der Lokalsprachen. Hier werden wir heute Nacht wohnen.«
     
    Er zeigte auf das Zelt, das am nächsten zum Fluss stand. Eine junge schwarze Frau nahm ihr die Tasche ab.
     
    »Was tun wir hier?« fragte Hong.
     
    »Wir genießen die afrikanische Stille nach einem langen Arbeitstag.« 
    »Und hier soll ich den Leoparden zu sehen bekommen?« 
    »Nein. Hier gibt es hauptsächlich Schlangen und Eidechsen. Und die gefürchteten Jägerameisen. Aber keine Leoparden.«
     
    »Was geschieht jetzt?«
     
    »Nichts. Die Tagesarbeit ist getan. Du wirst sehen, dass alles nicht so primitiv ist, wie du glaubst. In deinem Zelt ist sogar eine Dusche. Und ein bequemes Bett. Später gibt es ein gemeinsames Essen. Wer dann noch am Feuer sitzen möchte, kann es tun, wer nicht, kann schlafen.«
     
    »Lass uns miteinander reden«, sagte Hong. »Es ist notwendig.« Ya Ru lächelte. »Nach dem Essen. Vor meinem Zelt.« Er brauchte es ihr nicht zu zeigen. Hong hatte schon verstanden, dass es das Zelt neben ihrem war.
     
    Hong saß vor ihrem Zelt und sah, wie sich die kurze Dämmerung über den Busch senkte. Auf dem offenen Platz zwischen den Zelten brannte schon ein Feuer. Dort erkannte sie Ya Ru. Er hatte einen weißen Smoking angezogen. Das erinnerte sie an ein Bild, das sie vor langer Zeit in einer chinesischen Zeitschrift gesehen hatte. Es war eine große Reportage über die koloniale Geschichte Afrikas und Asiens. Zwei weiße Männer im Smoking hatten tief im afrikanischen Busch gesessen und eine Mahlzeit an Tischen mit weißem Tischtuch, kostbarem Porzellan und gekühltem Wein abgehalten. Hinter ihren Stühlen hatten reglos die afrikanischen Bediensteten gestanden.
     
    Ich möchte wissen, wer mein Bruder ist, dachte sie. Früher war ich der Meinung, wir gehören zusammen, nicht nur als Familie, sondern auch in der gemeinsamen Arbeit für unser Land. Jetzt weiß ich es nicht mehr.
     
    Hong ging als Letzte zu dem gedeckten Tisch am Feuer. Sie dachte an den Brief, den sie in der Nacht zuvor geschrieben hatte. Und an Ma Li, von der sie plötzlich auch nicht mehr wusste, ob sie ihr vertrauen konnte.
     
    Nichts ist mehr sicher, dachte sie. Nichts.
     
    Nach dem Essen, umgeben von den Schatten der Nacht, trat eine Tanzgruppe auf. Hong, die den angebotenen Wein nicht probiert hatte, um einen klaren Kopf zu behalten, sah den Tänzern bewundernd zu und erinnerte sich an eine vergangene Sehnsucht. Als sie sehr jung gewesen war, hatte sie von einer Zukunft als Artistin bei einem chinesischen Zirkus oder in der klassischen Oper von Peking geträumt. Es war ein zweiteiliger Traum. Wenn sie sich selbst in der Zirkusmanege sah, hielt sie am geschicktesten eine unendliche Zahl von Porzellantellern auf Bambusstöcken in Bewegung. Sie ging langsam zwischen den tanzenden Tellern umher und bewahrte einen wackelnden Teller im allerletzten Augenblick mit einer schnellen Handbewegung vor dem Fallen. In der Oper von Peking war sie dagegen die ernste Heldin, die einen tausendfach stärkeren Feind in einem akrobatischen Krieg mit Stöcken bekämpfte, die Spieße oder Schwerter darstellten. Später, als sie älter wurde und es mit dem

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