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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Träumen vorbei war, hatte sie begriffen, dass sie sich danach sehnte, das Geschehen ringsumher zu kontrollieren. Jetzt, als sie die Tänzer sah, die sich zu einem einzigen vielarmigen Körper zu vereinigen schienen, wurde etwas von jenem Gefühl wieder in ihr wach. An diesem afrikanischen Abend mit seinem undurchdringlichen Dunkel, der feuchten Wärme und den Düften des Meeres, dessen Rauschen schwach zu hören war, kehrte, als das Lager zur Ruhe gegangen war, ihre Kindheit zurück. Sie betrachtete Ya Ru, der auf einem Zeltstuhl saß und mit halbgeschlossenen Augen ein Glas Wein auf dem Knie balancierte, und dachte, wie wenig sie davon wusste, was er als Kind geträumt hatte. Er hatte sich immer in einem eigenen inneren Raum befunden. Sie hatte ihm nahekommen können, aber nicht so nahe, dass sie jemals über Träume gesprochen hätten.
     
    Ein chinesischer Dolmetscher stellte die Tänze vor. Das wäre nicht nötig gewesen, dachte Hong. Dass es Volkstänze waren, die im täglichen Leben wurzelten und von symbolischen Begegnungen mit Teufeln und Dämonen oder guten Geistern handelten, konnte man sich auch selbst denken. Die Riten der Menschen hatten die gleiche Quelle, unabhängig von Hautfarbe und Land. Das Klima bedeutete etwas, wer Kälte gewohnt war, tanzte in Kleidern. Aber in der Trance und im Suchen nach der Verbindung zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen dem, was war, und dem, was kommen sollte, verhielten sich Chinesen und Afrikaner gleich.
     
    Hong sah sich weiter um. Präsident Gebuza und seine Begleiter waren verschwunden. Im Lager, wo sie übernachten sollten, war nur die chinesische Delegation, natürlich mit Personal, Köchen und einer großen Zahl von Sicherheitskräften, die sich in den Schatten verbargen. Viele von denen, die jetzt dem intensiven Tanz zusahen, schienen in ihre Gedanken versunken zu sein. In der afrikanischen Nacht wird ein großer Sprung vorbereitet, dachte sie. Und ich weigere mich zu glauben, dass es der Weg ist, den wir gehen müssen. Vier Millionen unserer ärmsten Menschen, vielleicht mehr, sollen in die afrikanische Wildnis umgesiedelt werden, das kann nicht funktionieren, ohne dass wir beträchtliche Leistungen von dem Land fordern, das sie aufnimmt.
     
    Eine Frau begann zu singen. Der chinesische Dolmetscher sagte, es sei ein Wiegenlied. Hong hörte, dass die Töne auch ein chinesisches Kind in den Schlaf hätten bringen können. Sie erinnerte sich an die Geschichte von der Wiege, die sie einmal gehört hatte. In armen Ländern binden sich die Frauen ihre Kinder auf den Rücken, um die Hände für ihre Arbeit frei zu haben, besonders auf den Äckern. In Afrika ist es die Arbeit mit den Hacken, in China das Waten in kniehohem Wasser, um Reispflanzen zu setzen. Jemand hatte einen Vergleich mit Fußwiegen gemacht, die in anderen Ländern, auch in einigen Gegenden von China gebräuchlich waren. Der Takt, in dem der Fuß die Wiege bewegt, gleicht den Hüftbewegungen einer gehenden Frau. Und das Kind schläft. Sie schloss die Augen und lauschte. Die Sängerin endete mit einem Ton, der lange nachhallte und dann wie eine Feder auf die Erde zu sinken schien. Die Vorstellung war beendet, 492.
     
    und die Gäste applaudierten. Zwischen Einzelnen entspannen sich leise Gespräche, Stühle wurden zusammengerückt. Andere Gäste standen auf, verschwanden in ihren Zelten oder blieben am Rande des Lichtscheins vom Feuer stehen, als ob sie auf etwas Unvorhersehbares warteten.
     
    Ya Ru kam und setzte sich neben Hong. »Ein seltsamer Abend«, sagte er. »Absolute Freiheit und Stille. Ich glaube, so weit bin ich noch nie von der großen Stadt entfernt gewesen.«
     
    »Dein Büro«, sagte Hong. »Hoch über den gewöhnlichen Menschen, den Autos und dem Lärm.«
     
    »Das kann man nicht vergleichen. Dort bin ich wie in einem Flugzeug. Manchmal denke ich, mein hohes Haus schwebt in der freien Luft. Hier bin ich auf dem Boden. Die Erde hält mich fest. In diesem Land hätte ich gern ein Haus, einen Bungalow an einem Strand, ich könnte vom abendlichen Bad direkt zu meinem Bett gehen.«
     
    »Das brauchst du doch nur zu verlangen. Ein Grundstück, einen Zaun und jemanden, der das Haus so baut, wie du es haben willst.«
     
    »Irgendwann vielleicht. Nicht jetzt.«
     
    Hong bemerkte, dass sie jetzt allein waren. Die Stühle ringsumher waren leer. Ob Ya Ru angekündigt hatte, dass er mit seiner Schwester allein sprechen wollte?
     
    »Hast du die Frau gesehen, die in ihrem Tanz eine

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