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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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ihr klar. Aber gerade das machte ihr keine Angst. Dass er böse wurde, wenn seine Schwester ihn schlug, das war verständlich, damit konnte sie umgehen. Wenn sie ihn sah, wollte sie ihn sofort um Entschuldigung bitten.
     
    Das Zelt stand so weit vom Feuer entfernt, dass die Geräusche der Natur ihr näher waren als das Gemurmel der Stimmen, der fortdauernden Gespräche. Der schwache Wind brachte den Geruch von Salz, nassem Sand und etwas anderem mit, das sie nicht zuordnen konnte.
     
    In Gedanken ging sie in der Zeit zurück. Sie erinnerte sich an Maos Wort, dass sich in der Politik in jeder Tendenz eine andere verbarg. Dass unterhalb von dem, was man sehen konnte, bereits etwas anderes im Werden war. Es wäre ebenso richtig, morgen Aufruhr zu machen, wie in zehntausend Jahren. In der Erniedrigung des alten China hatte sich unter Blut und Mühen und tausendjährigem Schweiß die zukünftige Kraft gebildet. Die brutale Machtausübung der Feudalherren hatte zu Verfall und unfassbarer Not geführt. Im Elend aber war zugleich die Kraft entstanden, von der sich die vielen Bauernkriege und die Bauernbewegung genährt hatten, die sich nie ganz hatte unterdrücken lassen. Das Kräftemessen hatte Jahrhunderte gedauert, der Staat der Mandarine und der Kaiserdynastien hatte sich in vermeintlicher Unangreifbarkeit verschanzt. Aber die Unruhe hatte sich nie gelegt, der Aufruhr war weitergegangen, und schließlich war die Zeit reif gewesen und die starken Bauernheere hatten die Feudalherren ein für alle Mal vom Grund und Boden vertrieben und die Befreiung des Volkes vollzogen.
     
    Mao hatte gewusst, was kommen würde. Noch am Tag der Proklamation der Volksrepublik China im Jahre 1949 auf dem Tiananmen hatte er seine engsten Mitarbeiter um sich versammelt und gesagt, dass sich Kräfte zu formen begannen, die dem neuen Land entgegenarbeiteten, obwohl der Staat noch nicht einmal einen Tag alt war. »Wer glaubt, in der Zeit des Kommunismus könne sich kein Mandarinat bilden, hat nichts verstanden«, soll er gesagt haben. Und es hatte sich gezeigt, dass er recht gehabt hatte. Solange der Mensch noch auf dem Boden dessen stand, was gewesen war, würden verschiedene Gruppen immer nach Privilegien streben.
     
    Mao hatte sie vor der Entwicklung in der Sowjetunion gewarnt. Da China damals von der Unterstützung des großen Nachbarn im Westen vollkommen abhängig gewesen war, hatte er sich taktisch und vorsichtig ausgedrückt und seine Worte verschlüsselt. »Die Menschen müssen gar nicht böse sein. Sie streben trotzdem nach dem, wovon sie sich Vorteile versprechen. Die Mandarine sind nicht tot. Wenn wir nicht wachsam sind, stehen sie eines Tages vor uns und halten rote Fahnen in den Händen.«
     
    Hong hatte sich schwach gefühlt, als sie Ya Ru geohrfeigt hatte. Jetzt merkte sie, dass es vorbei war. Das Wichtigste war für sie, weiter darüber nachzudenken, wie sie zu einer ordentlichen Diskussion in der Partei über die Frage beitragen konnte, welche Konsequenzen die neue Linie haben würde. Ihr innerstes Wesen protestierte gegen das, was sie an diesem Tag erlebt hatte, und gegen das Bild der Zukunft, das Ya Ru ihr vor Augen geführt hatte. Wer auch nur den geringsten Begriff von der zunehmenden Unzufriedenheit hatte, die sich außerhalb der größten und reichsten Städte verbreitete, der verstand, dass etwas getan werden musste aber die Umsiedlung von Millionen Bauern nach Afrika war keine Lösung.
     
    Mit Ma Li hatte sie über neunzigtausend Unruhen gesprochen. Neunzigtausend! Sie versuchte, im Kopf auszurechnen, wie viele Vorfälle und Tumulte das pro Tag waren. Zwei- bis dreihundert, mit steigender Tendenz. Die zunehmende Unzufriedenheit hatte nicht nur mit den großen Einkommensunterschieden zu tun. Es ging auch nicht nur um Ärzte und Schulen, sondern ebenso um brutale Gangstertrupps, die durch die Dörfer zogen, Frauen entführten und zur Prostitution zwangen und Sklavenarbeiter für Ziegelöfen und Fabriken zusammentrieben, die mit gefährlichen chemischen Prozessen arbeiteten. Es herrschte Unzufriedenheit mit den Leuten, die, oft mit Hilfe lokaler Amtsinhaber, Menschen von ihrem Land jagten, wenn dessen Wert stieg, weil dort für die ständig wachsenden Städte Wohnungen gebaut werden sollten. Hong wusste durch ihre vielen Reisen im Lande auch von den Konsequenzen, die das Wesen des freien Marktes für die Umwelt hatte. Es führte zu Versandung, Vergiftung und Verschmutzung der Flüsse, so dass es unglaubliche Summen

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