Der Chinese
töten. Als sie in Peking den jungen Chinesen bat, das Foto aus Sture Hermanssons Kamera zu zeigen, hatte sie nicht ahnen können, welche Konsequenzen daraus erwachsen würden. Aus einleuchtenden Gründen hatte er geglaubt, dass sie in Hudiksvall wohnte. Jetzt hatte er einen Irrtum korrigiert und von Sture Hermansson die richtige Adresse bekommen.
Sie erlebte einen chaotischen Moment. Der Überfall und Hongs Tod, die Tasche, die verschwand und wiederkam, der »Besuch« in ihrem Hotelzimmer, alles hing zusammen. In panischer Verzweiflung wählte sie Staffans Nummer. Aber sein Telefon war nicht erreichbar. Im Stillen verfluchte sie ihr Segelabenteuer. Sie versuchte die Nummer einer ihrer Töchter, aber mit dem gleichen Resultat.
Sie rief Karin Wiman an. Auch dort keine Antwort. Die Panik ließ ihr keine Atempause. Sie sah keine andere Möglichkeit als die Flucht. Sie musste weg. Zumindest bis sie verstand, in was sie hineingezogen worden war.
Als ihr Beschluss gefasst war, handelte sie, wie sie es in extremen Situationen zu tun pflegte: schnell und entschieden, ohne zu zweifeln. Sie rief Hans Mattsson an und bekam ihn an den Apparat, obwohl er in einer Sitzung saß.
»Mir geht es schlecht«, sagte sie. »Nicht der Blutdruck. Ich bin nur fiebrig. Vielleicht ein Virus. Aber ich muss mich ein paar Tage krankschreiben lassen.«
»Du hast dich bei dem Prozess gegen die Vietnamesen übernommen«, klagte Mattsson. »Es wundert mich gar nicht. Ich habe gerade ein Schreiben an die Oberste Justizbehörde abgefasst und erklärt, dass das schwedische Richteramt nachgerade unmöglich gemacht wird. Wie es im Moment aussieht, mit allen überlasteten Gerichtspräsidenten und Richtern, ist die Rechtssicherheit in Gefahr.«
»Es dauert nur ein paar Tage. Ich habe vor der nächsten Woche keine Verhandlungen.«
»Erhole dich. Und lies die Lokalzeitung: ›Richterin Roslin leitete die Verhandlung wie gewohnt mit sicherer Hand und ließ keine Störungen seitens der Zuhörer zu. Ein Vorbild! Wir brauchen wirklich jedes Lob, das wir bekommen können. In einer anderen Welt und zu einer anderen Zeit hätten wir dich zur Richterin des Jahres ernennen können, wenn wir uns denn mit solch fragwürdigen Auszeichnungen abgäben.« Birgitta Roslin ging ins Obergeschoss hinauf und packte eine kleine Reisetasche. In einem Exemplar eines alten JuraLehrbuchs hatte sie von einer früheren Reise eine Anzahl Pfundnoten aufbewahrt. Sie hatte nur den einen Gedanken, dass der Mann, der Sture Hermansson getötet hatte, auf dem Weg nach Süden war. Er konnte bereits in der Nacht abgefahren sein, wenn er im Wagen fuhr. Niemand hatte ihn verschwinden sehen.
Dann fiel ihr ein, dass sie nicht an die Überwachungskamera des Hotels gedacht hatte. Sie rief noch einmal im Hotel Eden an. Diesmal meldete sich ein hustender Mann.
Birgitta Roslin machte sich nicht die Mühe zu erklären, wer sie war. »Es gibt eine Überwachungskamera im Hotel. Sture Hermansson hat seine Gäste immer gefilmt. Es stimmt nicht, dass das Hotel heute Nacht leer war. Es war ein Gast da.«
»Mit wem spreche ich?«
»Sind Sie Polizeibeamter?«
»Ja.«
»Sie haben gehört, was ich gesagt habe. Wer ich bin, spielt keine Rolle.«
Birgitta Roslin legte auf. Es war halb neun geworden. Sie nahm ein Taxi zum Bahnhof und saß um kurz nach neun in einem Zug nach Kopenhagen. Die Panik begann jetzt der Rechtfertigung für ihr Handeln zu weichen. Sie war überzeugt, dass sie sich die Gefahr nicht nur einbildete. In dem Moment, in dem sie in Peking das Foto des Mannes gezeigt hatte, der im Hotel Eden gefilmt worden war, hatte sie, ohne es zu ahnen, in einem Haufen aggressiver Jagdameisen herumgestochert. Hongs Tod war das unmissverständliche Alarmsignal, das sie aufgeschreckt hatte. Ihr einziger Ausweg bestand jetzt in der Hilfe, die Ho ihr angeboten hatte. In der Abflughalle in Kastrup sah sie auf der Übersichtstafel, dass in zwei Stunden ein Flug nach London Heathrow ging. Sie kaufte ein Ticket mit offenem Rückflug. Nach dem Einchecken setzte sie sich mit einer Tasse Kaffee hin und rief noch einmal Karin Wiman an. Aber bevor Karin sich hätte melden können, drückte sie wieder auf die Austaste. Was sollte sie Karin sagen? Sie würde nicht verstehen, obwohl Birgitta ihr bei ihrem Treffen vor einigen Tagen alles erzählt hatte. In Karins Vorstellungswelt passierten Dinge, wie sie jetzt in Birgitta Roslins Leben geschahen, einfach nicht.
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