Der Chinese
das erste Mal, dass San Gewalt gegen einen Dienstboten anwendete. Na schrie und warf sich zu Boden. San begriff schnell, dass nicht sie es gewesen war, die geklatscht hatte. Das ältere Dienstmädchen hatte zugehört, als Qi sich Na anvertraut hatte. San konnte sich so weit beherrschen, dass er nicht auch noch hinter ihr herjagte. Dann hätte er die Missionsstation verlassen müssen.
Er nahm Na mit in sein Zimmer und ließ sie auf einem Hocker Platz nehmen. »Wo ist Qi?«
»Sie ist vor zwei Tagen gegangen.«
»Wohin?«
»Ich weiß es nicht. Sie war sehr traurig. Sie lief.« »Sie muss doch gesagt haben, wohin sie wollte?« »Ich glaube, sie wusste es nicht. Ich glaube, sie wollte vielleicht zum Fluss hinunter und dort auf dich warten.« San sprang auf, lief aus dem Zimmer, hinaus durch das Tor und zum Hafen hinunter. Aber er konnte sie nicht finden. Er suchte fast den ganzen Tag nach ihr, fragte sich durch, aber niemand hatte sie gesehen. Er redete mit den Leuten von der Rudermannschaft, und sie versprachen, ihn zu informieren, wenn Qi sich zeigte.
Als er zur Missionsstation zurückkam und Elgstrand begegnete, schien dieser bereits vergessen zu haben, was geschehen war. Er bereitete gerade den Gottesdienst vor, der am nächsten Tag stattfinden sollte.
»Meinst du nicht, dass der Hof gefegt werden sollte?« fragte Elgstrand freundlich. »Ich werde dafür sorgen, dass es morgen früh geschieht, bevor die Besucher kommen.« Elgstrand nickte, und San verbeugte sich. Elgstrand war offenbar der Meinung, dass Qi so schlimm gesündigt hatte, dass es keine Rettung für sie gab.
San konnte nicht verstehen, dass es Menschen geben sollte, die der großen Gnade nicht teilhaftig wurden, obwohl ihre Sünde nur darin bestand, einen anderen Menschen geliebt zu haben.
Er sah zu Elgstrand und Lodin hinüber, die vor dem Büro der Missionsstation standen und sich unterhielten.
Es war, als sähe er sie erst jetzt wirklich.
Zwei Tage später erhielt San eine Nachricht von einem seiner Freunde am Hafen. Er eilte hin. Er musste sich durch eine große Menschenmenge drängen. Qi lag auf einem Brett. Eine schwere Eisenkette war um ihre Taille geschlungen, trotzdem war sie aus der Tiefe nach oben gekommen. Die Kette hatte sich an einem Ruder verhakt, das den Körper an die Oberfläche gezogen hatte. Ihre Haut war blauweiß, die Augen waren geschlossen. Nur San konnte ahnen, dass sich in ihrem Bauch ein Kind befand.
Und wieder war San allein.
Er gab dem Mann, der ihn benachrichtigt hatte, etwas Geld. Es würde reichen, um die Leiche zu verbrennen. Zwei Tage danach vergrub er ihre Asche an der Stelle, wo schon Guo Si und Liu ruhten.
Das habe ich in meinem Leben erreicht, dachte er. Ich richte meinen eigenen Friedhof ein und fülle ihn. Hier ruhen nun schon die Reste von vier Menschen, von denen einer noch nicht einmal geboren wurde.
Er ließ sich auf die Knie fallen und schlug mit der Stirn mehrmals auf den Boden. Die Trauer überwältigte ihn. Er konnte nichts gegen sie ausrichten. Er heulte wie ein Tier, aus Zorn über das, was geschehen war. Nie hatte er sich so hilflos gefühlt wie jetzt. Er, der sich einmal für fähig gehalten hatte, für seine Brüder zu sorgen, war nur noch der Schatten eines Menschen, der zerbrochen wurde.
Als er spät am Abend zur Missionsstation zurückkam, teilte ihm der "Wächter mit, dass Elgstrand ihn gesucht habe. San klopfte an die Tür des Büros, in dem Elgstrand beim Licht seiner Lampe saß und schrieb.
»Ich habe dich vermisst«, sagte er. »Du bist den ganzen Tag fort gewesen. Ich habe zu Gott gebetet, dass dir nichts passiert ist.«
»Es ist nichts passiert«, antwortete San und verneigte sich. »Ich hatte nur etwas Zahnweh, das habe ich mit ein paar Kräutern kuriert.«
»Das ist gut. Wir können nicht ohne dich auskommen. Geh jetzt schlafen.«
San sagte Elgstrand und Lodin nicht, dass Qi sich das Leben genommen hatte. Ein neues Mädchen wurde angestellt. San schloss den tiefen Schmerz in sich ein und blieb für viele Monate der unersetzliche Diener der Missionare. Nie teilte er etwas von seinen Gedanken mit, nichts verriet, dass er den Predigten jetzt mit einer anderen Aufmerksamkeit als früher zuhörte.
Dies war auch die Zeit, in der er genügend viele Schriftzeichen zu beherrschen glaubte, um seine und seiner Brüder Geschichte aufzuzeichnen. Er wusste noch immer nicht, für wen er sie erzählte.
Weitere Kostenlose Bücher