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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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für gefährlich hielten. Es stimmte, dass er früher in seinem Leben einige Male die Fassung verloren und Menschen physischen Schaden zugefügt hatte. Aber das kam nicht mehr vor. Dass er beängstigend wirken konnte, machte ihm nichts aus. Wichtiger war, die Kontrolle über den Zorn nicht zu verlieren, der ihn zuweilen erfüllte.
     
    Manchmal verließ Ya Ru seine Wohnung am frühen Morgen durch eine geheime Tür. Dann mischte er sich unter die Menschen in einem nahe gelegenen Park, die meisten älter als er selbst, und führte die konzentrierte Gymnastik aus, die man Tai Chi nennt. Er fühlte sich dann als kleiner unbedeutender Teil der großen anonymen chinesischen Masse. Niemand wusste, wer er war oder wie er hieß. Es war wie eine Selbstreinigung. Wenn er dann in sein Haus zurückkehrte und seine Identität wieder annahm, fühlte er sich gestärkt. Es war bald Mitternacht. Er erwartete an diesem Abend zwei Besucher. Es machte ihm Spaß, Menschen, die etwas von ihm wollten oder bei denen er überhaupt einen Grund sah, sich mit ihnen zu treffen, mitten in der Nacht oder in der Morgendämmerung in sein Büro zu bestellen. Der richtige Umgang mit der Zeit brachte ihn in eine überlegene Position. In einem kalten Raum in der frühen Morgendämmerung konnte er leichter erreichen, was er wollte.
     
    Er sah auf die Stadt mit ihren glitzernden Lichtern. 1967, als die Wellen der Kulturrevolution am höchsten schlugen, war er in einem Krankenhaus irgendwo dort unten geboren worden. Sein Vater war nicht da gewesen, weil er als Professor an einer Universität von den wilden Säuberungen der Rotgardisten betroffen und aufs Land gejagt worden war, um die Schweine der Bauern zu hüten. Ya Ru war ihm nie begegnet. Er war verschwunden und hatte nie wieder etwas von sich hören lassen. Später hatte Ya Ru einige seiner engsten Mitarbeiter an jenen Ort auf dem Lande gesandt, wohin sein Vater vermutlich geschickt worden war. Aber ohne Resultat, niemand erinnerte sich seiner. Auch in den chaotischen Archiven aus jener Zeit gab es keine Spuren. Ya Rus Vater war in der großen politischen Flutwelle ertrunken, die Mao ausgelöst hatte.
     
    Für seine Mutter war es eine schwere Zeit gewesen, allein mit ihrem Sohn und der älteren Tochter Hong. Seine früheste Erinnerung im Leben war, dass seine Mutter weinte. Die Erinnerung war getrübt, aber er hatte sie nicht vergessen. Später, zu Anfang der 1980er Jahre, als sich ihre Situation verbessert und seine Mutter ihre Arbeit als Lehrerin in theoretischer Physik an einer der Universitäten in Peking wieder ausüben durfte, hatte er mehr von dem Durcheinander verstanden, das zur Zeit seiner Geburt geherrscht hatte. Mao hatte ein neues Universum zu errichten versucht. So wie das Universum aus dem Chaos entstanden war, sollte ein neues China aus dem Aufruhr hervortreten, den er in Gang gesetzt hatte.
     
    Ya Ru verstand früh, dass der Erfolg nur dann gewiss war, wenn man zu deuten lernte, wo sich die Macht befand. Wer die verschiedenen Tendenzen im politischen und ökonomischen Leben nicht erfasste, würde nie das Niveau erreichen, auf dem er sich jetzt befand.
     
    Aber da bin ich jetzt, dachte Ya Ru. Als hier in China der Markt geöffnet wurde, war ich bereit. Ich war eine dieser Katzen, von denen Deng sprach, Katzen, die weder schwarz noch weiß zu sein brauchten, wenn sie nur Mäuse jagten. Jetzt bin ich einer der reichsten Männer meiner Generation. Ich habe mich durch gute Kontakte tief in die Verbotene Stadt der neuen Zeit hinein abgesichert, wo der innerste Kern der Kommunistischen Partei herrscht. Ich bezahle ihre Auslandsreisen und lasse Modedesigner für ihre Frauen einfliegen. Ich versorge ihre Kinder mit guten Studienplätzen in den USA und baue Häuser für ihre Eltern. Dafür bekomme ich meine Freiheit.
     
    Er unterbrach sich in seinen Gedanken und schaute auf die Uhr. Bald Mitternacht. Sein erster Besuch würde bald kommen. Er ging an den Schreibtisch und drückte auf den Knopf eines Lautsprechers. Frau Shen antwortete sofort. »Ich erwarte Besuch«, sagte er, »in ungefähr zehn Minuten. Lassen Sie sie eine halbe Stunde warten. Dann melde ich mich und bitte sie herein.«
     
    Ya Ru setzte sich an den Schreibtisch. Er war immer leer, wenn er ihn am Abend verließ. Jeder neue Tag sollte mit einem sauberen Tisch beginnen, auf dem sich neue Herausforderungen ausbreiten konnten.
     
    Jetzt lag dort ein zerlesenes Buch mit geflicktem Umschlag. Ya Ru hatte manchmal daran gedacht,

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