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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Leben, das er jetzt führte. Der Gedanke, dass es das Geld der Mission war, erfüllte ihn mit Befriedigung. Es war die Rache dafür, dass er so lange von den Christen betrogen worden war, die ihm hatten einreden wollen, es gebe einen gerechten Gott, der alle Menschen gleich behandelte.
     
    Viele Jahre vergingen, bis San eine neue Frau fand. Eines Tages, als er einen seiner regelmäßigen Besuche in der Stadt machte, sah er eine junge Frau in Gesellschaft ihres Vaters die Straße entlanggehen. Er folgte ihnen, und als er gesehen hatte, in welchem Haus sie wohnten, hatte er seine Diener beauftragt, Erkundigungen über den Vater einzuziehen. Er war ein unterer Beamter bei einem der Mandarine der Stadt, und San meinte, der Vater würde ihn für einen geeigneten Freier halten. Er suchte vorsichtig den Kontakt mit ihm, ließ sich vorstellen und lud ihn in eines der vornehmsten Teehäuser Kantons ein. Einige Zeit später wurde er in das Haus des Beamten eingeladen und hatte zum ersten Mal Gelegenheit, der jungen Frau gegenüberzustehen, die den Namen Tie trug. Er fand sie angenehm, und als sie ihre Scheu ein wenig abgelegt hatte, zeigte sich, dass sie auch einen guten Kopf hatte.
     
    Ein weiteres Jahr später, im Mai 1881, fand die Hochzeit statt. Im März 1882 wurde ein Sohn geboren, dem er den Namen Guo Si gab. Er wurde nie müde, das Kind anzuschauen, und empfand zum ersten Mal seit vielen Jahren Freude am Leben.
     
    Sein Zorn aber war nicht geringer geworden. Er widmete sich immer intensiver einer der geheimen Gesellschaften, die daran arbeiteten, die weißen Menschen aus dem Lande zu jagen. Armut und Leid in seinem Lande würden nie gelindert werden, solange die fremden weißen Menschen die größten Handelseinkünfte mit Beschlag belegten und den Chinesen das verhasste Rauschmittel aufzwangen, das man Opium nannte.
     
    Die Zeit verging. San wurde älter, die Familie wuchs. Oft zog er sich des Abends zurück und las in dem großen Tagebuch, an dem er immer noch schrieb. Er wartete nur noch darauf, dass seine Kinder groß genug waren, um das Buch zu verstehen und vielleicht selbst zu lesen.
     
    Außerhalb seines Hauses sah er weiterhin das Gespenst der Armut durch Kantons Straßen streichen. Die Zeit ist noch nicht reif, dachte er. Aber eines Tages wird all das von einer Flutwelle weggespült werden.
     
    San führte ein einfaches Leben. Den größten Teil seiner Zeit widmete er den Kindern, die er bekommen hatte.
     
    Aber er hörte nie auf, nach Zi Ausschau zu halten, wenn er durch die Stadt wanderte, immer bewaffnet mit einem scharf geschliffenen Messer, das er in seiner Kleidung verbarg. Ya Ru liebte es, abends in seinem Büro allein zu sein. Dann war das hohe Gebäude im Zentrum von Peking, dessen oberste Etage mit den großen Panoramafenstern zur Stadt hin ihm gehörte, beinahe leer. Nur die Nachtwachen im Erdgeschoss und die Reinmachehilfen waren noch da. In seinem Vorzimmer wartete eine Sekretärin, Frau Shen, die so lange blieb, wie er es verlangte, manchmal sogar bis zur Morgendämmerung.
     
    An diesem Tag im Dezember 2005 war Ya Ru achtunddreißig Jahre alt geworden. Er stimmte der Auffassung jenes westlichen Denkers zu, der geschrieben hatte, ein Mann dieses Alters befinde sich in der Mitte des Lebens. Er hatte viele Freunde, die befürchteten, dass man das Alter als zwar schwachen, aber bereits kalten Wind im Nacken spüre, wenn man sich den Vierzigern näherte. Diese Furcht kannte Ya Ru nicht. Er hatte sich bereits als junger Student an einer Universität in Shanghai entschlossen, keine Zeit und Kraft darauf zu verschwenden, sich um etwas Sorgen zu machen, was er doch nicht ändern konnte. Der Gang der Zeit war die nicht messbare und launische Größe, gegen die am Ende jeder verlor. Widerstand konnte man nur leisten, indem man versuchte, die Zeit zu nutzen.
     
    Ya Ru streifte das kalte Fensterglas mit der Nase. Er achtete immer auf niedrige Temperaturen in seiner Bürosuite, in der alle Möbel geschmackvoll in Schwarz und Blutrot gehalten waren. Die Temperatur musste konstant siebzehn Grad betragen, sei es während der kalten Jahreszeit, sei es wenn Hitze und Sandstürme über Peking hinwegzogen. Er hatte sich immer zur kühlen Überlegung bekannt. Geschäfte machen oder politische Entschlüsse fassen, das war eine Art Kriegszustand, in dem nur rationale und kühle Berechnung etwas bedeutete. Nicht ohne Grund wurde er Liang, »der Kühle«, genannt.
     
    Es gab allerdings auch Menschen, die ihn

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