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Der Chirurg von Campodios

Der Chirurg von Campodios

Titel: Der Chirurg von Campodios Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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einen Gegenstand in einen anderen zu »transformieren«, wie Achille sich ausdrückte.
    Im vorderen Raum wurde der Gegenstand hinter einer Glasscheibe angeleuchtet. Der Zuschauer sah zunächst nur ihn. Dann verlöschte langsam das Licht, und gleichzeitig wurde der andere Gegenstand im gegenüberliegenden Raum erhellt. Da nun im vorderen Abteil kein Licht mehr herrschte, wirkte die Glasscheibe wie ein Spiegel – und zeigte den zweiten Gegenstand. So entstand der Effekt einer perfekten Verwandlung.
    »Ich glaube, ich habe die Funktion verstanden«, sagte Vitus. »Aber was hat die Verwandlungsmöglichkeit von Gegenständen mit Franciscas toter Mutter zu tun?«
    »Ahhh, warte es ab,
mon ami
. Sag, du hast diese Kokablätter noch von den Cimarrones?«
    »Die Kokablätter? Ja, sicher.« Vitus hatte bei früherer Gelegenheit einmal über die Kokapflanze und ihre Rauschwirkung gesprochen, wusste bis heute aber nicht, wie stark die Droge war. »Was hast du denn mit den Blättern vor?«
    »Nun,
mon ami
, wenn Francisca spricht mit ihrer
maman
, es wäre gut, sie wäre ein bisschen, ähhh, berauscht. Wir vorher könnten, du und ich, es probieren einmal? Dann wir wissen, wie es wirkt.«
    »Ein Selbstversuch?« Vitus zögerte kurz, doch sein Interesse war bereits geweckt. »Warum nicht? Ich hole sie.«
    Wenig später hatte Vitus zwei mundgerechte Portionen hergestellt. Sie bestanden aus in Kokablättern eingerollter Holzasche, denn Holzasche war der Beistoff, den auch die Indianer zum Genuss der Droge verwendeten. Neugierig schoben beide sich ein Päckchen in den Mund und begannen es durchzukauen. Saft bildete sich, der von ungewohntem Geschmack war. »Nicht sehr
délicat, mon ami
!«, meinte Achille mit vollen Backen.
»N’est-ce pas?«
    »Stimmt.«
    Dennoch schluckten sie das Gemisch aus Kokasaft, Speichel und Asche hinunter, kauten weiter und stellten alsbald fest, dass der Hunger, den sie noch vor kurzem empfunden hatten, verschwand. Wenig später bemächtigte sich ihrer ein Gefühl der Euphorie, alles erschien ihnen klar und einfach. Die Welt war schön, und sie glaubten, sie könnten Bäume ausreißen.
    »Ich weiß auch nicht, warum ich mich so um Arlette gesorgt habe«, rief Vitus heiter. »Ich bin sicher, dass ich sie in den nächsten Tagen aufspüre, schließlich ist Habana kein Heuhaufen und Arlette keine Stecknadel.«
    Achille prustete los, wobei ihm ein Teil des Kokasaftes aus dem Mund spritzte. »Ahhh,
mon ami
, deine, ähhh, Angebetete ist keine Stecknadel, da ich bin sicher, hoho.« Abrupt stand er auf und strebte dem nach draußen führenden Schneckengewinde zu. »Ich muss mal gehen Pipi.«
    Vitus nickte und kaute weiter. Er beschloss, den sich immer wieder neu bildenden Saft nur noch einmal hinunterzuschlucken, da er nicht wusste, wie die Droge sich im weiteren Verlauf auswirken würde. Noch fühlte er sich prächtig, und er hoffte, dass dieser Zustand möglichst lange anhalten möge. Endlich, nach so vielen Tagen, war ihm wieder einmal froh und hoffnungsvoll zumute, und er hatte den bestimmten Eindruck, seine Suche nach Arlette könnte bald ein Ende nehmen.
    »Arlette?«, fragte er aufblickend.
    Er hatte so intensiv an die Geliebte gedacht, dass die Gestalt, die eben im Türrahmen erschien, ihr zum Verwechseln ähnelte. Oder war sie es leibhaftig? Er blinzelte heftig, um besser sehen zu können, und dachte für einen Augenblick an den Magister, dem es hoffentlich gelungen war, sich ein neues Nasengestell zu beschaffen. Ach ja, der Magister! Das treue, alte Unkraut! Und Enano, der listige Zwerg! Und Hewitt, der Zuverlässige. Gute Freunde allesamt. Gute Freunde … Wie war er eigentlich auf sie gekommen? Wie nur? Er konzentrierte sich mühsam, und schließlich fiel es ihm wieder ein: über die Gestalt in der Geheimtür …
    »Arlette, bist du das?«
    Die Gestalt löste sich aus dem Rahmen und antwortete: »Ahhh,
mon ami, pardon
. Es hat gedauert etwas länger mit Pipi. Es ist, ähhh, komisch,
n’est-ce pas
? Alles, ähhh, zerfließt ein bisschen,
oui

    Seine euphorische Stimmung zerplatzte wie eine Seifenblase und wich grenzenloser Enttäuschung.
    »Ja, du hast Recht … leider.«
     
    Vierundzwanzig Stunden darauf befand sich Vitus wieder im Spiegelkabinett. Er stand in einer Falte des nachtblauen Vorhangs, so dass er von niemandem gesehen werden konnte. Nicht einmal von Achille, der wieder in Arielles Kleidern steckte und sich seit geraumer Zeit Jaimes Frau widmete.
    Alles war vorbereitet. Um die zwei

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