Der Chirurg von Campodios
abgeteilten Kammern des Kabinetts punktförmig erleuchten zu können, gab es jeweils ein großes zusammengerolltes Pergamentstück, das von außen in den Raum hereinragte. Damit der Trichter funktionierte, musste an sein Ende eine Fackel gehalten werden. Diese Aufgabe sollte Louise zusammen mit Pedro, dem Kutscherjungen, wahrnehmen. Doch noch war es nicht so weit.
»Ahhh, Madame«, hörte Vitus Arielle sagen, »es ist gut, dass Ihr mitgebracht habt Orchideen – ohne Orchideen nichts ist
possible, n’est-ce pas
? Ihr schon merkt etwas von, ähhh, geheime Blätter?«
»Geheime Blätter?« Francisca war so aufgeregt, dass sie im ersten Augenblick nicht wusste, was die Wahrsagerin meinte. Dann fiel es ihr ein. »Ach, Ihr meint die Blätter, die ich seit einiger Zeit kaue?« Sie verzog den Mund, um gleich darauf zu lächeln. »Sie schmecken abscheulich, aber sie tun mir wohl, denke ich. Ich spüre schon die Nähe meiner Mutter, wahrhaftig, ich spüre sie.«
»
Voilà
, ich war mir sicher«, gab Madame Arielle nicht ohne Selbstzufriedenheit zurück. »Könnt Ihr sehen mich genau?«
»Ja, natürlich, das heißt, ein wenig undeutlich erscheint Ihr mir schon, so, als entferntet Ihr Euch einen Schritt und würdet gleich darauf wieder näher kommen. Es ist, als würde ich in einen dunklen Teich voller Wellen blicken … Das Licht ist so schwach.«
»
Oui
, Madame. Bleibt hier und setzt Euch.« Arielle wies auf einen Stuhl, der vor dem nachtblauen Vorhang stand, und bedeutete Francisca, die Kokablätter in einen bereitgestellten Napf zu speien. Dann trat sie zur Wand, an der ein schwach glimmendes Öllämpchen hing. Sie löschte es, und augenblicklich herrschte Dunkelheit.
Francisca stieß einen kleinen Schreckensschrei aus und begann übergangslos zu beten: »Gegrüßet seist Du, Maria, Du Gnadenreiche, die Du gebenedeit bist unter den Weibern und auserkoren vom Heiligen Geist …«
Es war so finster, dass man die Hand nicht vor Augen sehen konnte.
Madame Arielle verkündete von irgendwoher: »Die Séance möge beginnen.« Vitus hörte, wie der Vorhang zurückgezogen wurde, fühlte weitere Falten, die sich um ihn legten, und vernahm kurz darauf ein leises Fingerschnippen. Langsam, fast unmerklich, verschwand daraufhin die Schwärze und machte einem fahlen Licht Platz. Und mitten im Kegel dieses fahlen Lichts entdeckte er – einen Orchideenstrauß. Die Blumen schimmerten gelblich weiß, sie standen in einer Vase und schienen sich wie im Wind zu wiegen. Vitus erkannte, dass der Effekt seine Ursache in der Fackel am Ende der Lichtquelle hatte. Irgendwer, Pedro oder Lousie, wusste dort sehr geschickt mit den flackernden Flammen umzugehen.
»Ihr seht Strauß von Orchideen?«, fragte Madame Arielle. Ihre Stimme klang beschwörend.
»Ja, ja, ich sehe ihn. Die Blüten bewegen sich. Oh, sie bewegen sich … als würde jemand in sie hineinblasen!«
»
Oui
, Madame, Orchideen haben, ähhh, Lebenshauch, sie rufen Eure
maman
, sie rufen, sie rufen …« Ein abermaliges, kaum hörbares Fingerschnippen schloss sich an. Unmerklich wurde das Licht schwächer, die Blumen wurden dunkler, flossen auseinander, und aus der Mitte ihrer Blüten entwickelte sich ein Gesicht. Es war das Gesicht der Frau von dem Porträt. Die schmalen Augen blickten streng wie aus dem Nichts, denn der Rahmen des Bildnisses lag im Dunkel.
»Mutter?«, stieß Francisca ungläubig hervor. »Mutter? Oh, Mutter, bist du es wirklich?«
Der Kopf, der wie ein Lampion in der ihn umgebenden Schwärze zu hängen schien, nickte. Mit einem erstickten Laut fiel Francisca auf die Knie und bekreuzigte sich. »Barmherziger Vater im Himmel, gelobt seist Du, gepriesen seist Du immerdar, gib, dass dies Wirklichkeit ist, gib, dass Deine sündige Tochter Francisca mit ihrer alten Mutter noch einmal, ein einziges Mal, sprechen kann, gib, dass …«
Es folgten nicht enden wollende hervorgemurmelte Gebetsworte, bis schließlich die Stimme von Arielle unterbrach: »Ahhh, Madame, die Séance ist, ähhh, von Zeit begrenzt. Sagt besser jetzt, was Ihr wollt.«
Francisca bekreuzigte sich erneut, setzte sich wieder und stammelte: »Mutter, ich bekomme ein Kind, hörst du? Ein Kind!« Sie schniefte. »Der Herr in Seiner Gnade hat es gegeben, dass ich schwanger wurde. Sag, Mutter, ist das nicht wundervoll?«
Franciscas Mutter schwieg.
»Mutter?«
»Eure
maman
, Madame«, kam Arielles erklärende Stimme, »kann hören Euch, aber sie nicht kann sprechen,
compris
?«
»Ach so,
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