Der Chirurg von Campodios
Außenbordwand nach achtern klettern. Schritt für Schritt, ständig nach allen Seiten sichernd, tasteten sie sich in den dunklen Raum hinein. Dass die Piraten sämtlich betrunken waren, mochte sich als Vorteil erweisen. Aber auch als Nachteil. Denn die Mordbuben lagen kreuz und quer am Boden, gefällt vom Alkohol, und ein unbedachter Tritt konnte sie jederzeit aufwecken.
Doch wie sich herausstellte, war die Sorge unbegründet. Die Piraten waren so sternhagelvoll, dass sie sogar das Jüngste Gericht verschlafen hätten.
Zwischen Vitus und dem Magister war abgestimmt worden, dass sie so rasch wie möglich zu den achteren Kabinen vordringen wollten, da dort die Aussichten am größten waren, das Gesuchte zu finden. Als sie auf das Hauptdeck kamen, stutzte Vitus. Er glaubte ein Geräusch gehört zu haben, Laute, die klangen, als würden Riemen ins Wasser getaucht. Er legte die Hand hinter die Ohrmuschel und blickte den Magister fragend an. Der kleine Mann lauschte. Dann schüttelte er den Kopf. Er hatte nichts gehört.
Wirklich nicht?, fragten Vitus’ Augen. Der Magister schüttelte abermals den Kopf. Zweifelnd blickte Vitus zum Ufer hinüber, doch auch dort schien nichts bemerkt worden zu sein, denn kein Lichtzeichen leuchtete auf. Nun gut, wahrscheinlich hatte er sich geirrt.
Schulterzuckend schlich er weiter.
Hewitt und der Zwerg hatten es sich im Unterholz bequem gemacht, so bequem jedenfalls, wie eine Nacht im Freien es erlaubte: Beide trugen dicke Erdschichten im Gesicht, um sich vor den Moskitos zu schützen, und beide saßen weich auf einem Haufen Blätter – über sich den dunklen Nachthimmel und neben sich die abgedeckte Lampe.
Und trotzdem wollte die Zeit nicht vergehen. Vitus und der Magister waren schon eine halbe Ewigkeit fort.
Hewitt, der Zuverlässige, fragte sich zum soundsovielten Mal, ob das etwas zu bedeuten hatte. Waren die Freunde etwa erwischt worden? Doch nein, das konnte nicht sein, das hätte er gehört. Also hieß es, sich weiter zu gedulden. Er bemerkte, dass er müde wurde, und kniff sich in die Seite. Der Schmerz machte ihn halbwegs wach. Auch der Winzling neben ihm gähnte immer öfter. Gern hätte er ein Wort an den Kleinen gerichtet, aber Vitus hatte ihnen eingeschärft, nur dann zu sprechen, wenn es unbedingt nötig war.
Abermals spürte er, wie die Glieder ihm schwer wurden. Er biss die Zähne zusammen und kniff sich erneut. Diesmal so stark, dass es richtig wehtat. Das Kneifen war ein Trick, den ihm vor Jahren ein alter Schiffer verraten hatte. Auf der unteren Themse war es gewesen, wo Hewitt als Hilfsmann auf einem Fischerkahn gearbeitet hatte. Richtig, jetzt fiel ihm der Name des Schiffers wieder ein: Dillard Knock hatte er geheißen und sein Kahn
Mermaid II
. Der Kahn hatte ein Sprietsegel gehabt, was nichts Besonderes war, denn alle Fischerkähne auf der Themse fuhren ein solches Segel. Ein Sprietsegel, fast so wie das der
Albatross
…
Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie altersschwach Knocks Segel gewesen war, immer wieder war es ausgebessert worden, bis es zum Schluss wie ein Flickenteppich ausgesehen hatte. Und jedes Mal während der Reparatur hatten er und der Schiffer die
Mermaid II
eigenhändig zu den Fanggründen rudern müssen. Ja, das war eine rechte Plackerei gewesen, und das Geräusch der eintauchenden Riemen hatte er noch heute im Ohr.
Er schreckte auf. Was hatte er da gehört? War es Traum oder Wirklichkeit gewesen? Er hielt den Atem an, schloss die Augen und konzentrierte sich nur auf sein Horchvermögen. Nein, nichts, nur die Laute von Wind, Meer und Urwald. Und das leise Atmen von Enano. Noch immer war Hewitt sich seiner Sache nicht sicher. Er entschloss sich, den Zwerg anzusprechen: »Pssst, Enano, hast du das auch eben gehört?«
»Wiewo?« Der Winzling streckte die Kinderarme in die Luft und gähnte herzhaft.
»Rudergeräusche, ganz entfernt.«
»’s war nix, ’s kannste holmen.«
»Aber ich meine, ich hätte Riemen im Wasser gehört.«
»Riemen?« Der Winzling kicherte. »Hast deinen eignen Riemen gehört, beim Seichen, wie? Nee, nee, ’s war nix, bei meiner Ehr.«
»Nun ja, wenn du es sagst.« Hewitt beschloss, in Zukunft besser aufzupassen. Vorsorglich kniff er sich noch einmal in die Seite.
»Autsch!« Der Ausruf des Magisters war leise, aber deutlich. Er war mit dem Fuß gegen einen der sechs backbordseitigen Sakers gestoßen und hatte fast das Gleichgewicht verloren.
Vitus zog unwillig die Augenbrauen zusammen und
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