Der Chirurg von Campodios

nachzuholen. Wenn nichts dazwischenkommt, werden wir heute Abend handeln.«
    Der letzte, von Vitus fast nebenbei erwähnte Satz löste einen Wortschwall aus, der von allen Seiten auf ihn niederprasselte:
    »Was hast du vor? Jawy ist doch noch gar nicht da!«
    »Wui, wui, was tarrt das zinken?«
    »Und wenn Jawy da ist, was willst du dann tun? Ihm vor versammelter Mannschaft den Kopf abreißen, oder wie stellst du dir das vor?«
    »Wui, wui, Rübe ab!«
    »Ach was, Rübe ab! Der Herr Cirurgicus hat doch keine Chance gegen die Übermacht!«
    »Wiewo Übermacht? Grips is wichtich, Grips, Grips, Grips, nich, Vitus?«
    »Wir müssen sehr vorsichtig sein. Ich weiß es, denn ich bin ja einer von ihnen gewesen. Wenn sie jemanden erwischen, töten sie ihn!«
    Vitus legte den Finger an die Lippen. »Macht weiter so, dann hört uns gleich jeder da drüben! Ja, ich habe einen Plan, aber den erfahrt ihr noch früh genug. Hewitt, du gehst wieder die erste Wache, einverstanden?«
    »Einverstanden.«
    Hewitt bezog seinen Posten, und die anderen schlugen den Weg zum Lager ein. Der Magister wirkte ein wenig verschnupft und brummelte vor sich hin. »Bin gespannt, was der Herr Geheimniskrämer sich wieder ausgedacht hat. Unsereiner erfährt ja nichts.«
     
    Der Tag verging, ohne dass etwas Besonderes geschah. Die Freunde schliefen viel, massierten sich gegenseitig die müden Glieder, badeten die Füße im Bach und ließen es sich, soweit das ohne Nahrung möglich war, gut ergehen. Kurz vor Einbruch der Dämmerung nahm Vitus seine Gefährten beiseite: »Das Stellen des Besans ist drüben fast erledigt, trotzdem machen die Piraten keinerlei Anstalten fortzusegeln. Vielleicht, weil sie noch auf Jawy warten.«
    Hewitt wandte ein: »Oder weil der Wind nicht günstig steht, er weht vom Meer her, und das Herauskreuzen aus der Bucht ist schwierig, erst recht bei schwindendem Licht.«
    »Du hast Recht. In jedem Fall können wir davon ausgehen, dass die
Torment
noch länger hier liegt. Ich habe mir überlegt, dass es sinnlos ist, darauf zu warten, ob Jawy erscheint oder nicht. Wer weiß, wohin er seinen Guineaman steuert. Nein, wir handeln noch heute Nacht.«
    »Und ich dachte, wir hätten die ganzen Strapazen nur auf uns genommen, damit der verdammte Jawy seine gerechte Strafe kriegt?« Der Magister war noch immer ein wenig indigniert, weil Vitus ihn nicht in seine Pläne eingeweiht hatte. »Und nun soll das alles umsonst gewesen sein? Was hast du vor, wenn man fragen darf?«
    »Es ging mir nicht nur um Jawy, Magister. Schon auf dem Marsch hierher habe ich mich immer wieder gefragt, ob ich nur Rache um der Rache willen wollte und nur töten um des Tötens willen. Ich danke dem Allmächtigen, dass er mich die richtige Antwort finden ließ. Die Antwort heißt Ja, und ich schäme mich dafür. Ich will deshalb keine Vergeltung mehr, Gewalt zieht nur Gewalt nach sich.«
    Der Magister grunzte. »Wenn du so weitermachst, wirst du noch zum Protestanten. Nun, sei’s drum, ich stimme dir zu. An Gewalt hängt kein Segen, das hat uns die Inquisition leidvoll gelehrt.«
    »Ich bin froh, dass du das sagst. Aber es gibt noch einen anderen Grund, warum ich mit euch hierher wollte: Ich bin auf eure Hilfe angewiesen bei etwas, das ich letztendlich ganz allein durchführen muss. Es ist ein sehr gefährliches Unterfangen. Je weniger ihr darüber wisst, desto besser.«
    »Jetzt mach aber mal einen Punkt!« Die Geduld des kleinen Gelehrten war endgültig erschöpft. »Ich darf den Herrn Cirurgicus daran erinnern, dass wir uns einst geschworen haben, alles gemeinsam durchzustehen. Du bist an meiner Seite, ich an der deinen, so hieß es immer. Das war im Kerker schon so, und das ist auch jetzt nicht anders!«
    Vitus hob die Hände. »Ja, sicher, Magister. Aber das war damals, und es ging nur um uns beide. Jetzt sind wir zu viert. Und meine Verantwortung …«
    »Gickgack, Schabernack!« Der Zwerg richtete sich zu voller Höhe auf. »Wir sin Freunde, wie? Freunde sin wir, oder sin wir’s etwa nich?«
    »Doch, natürlich, aber versteht doch …«
    »Dann ist ja alles klar. Sag uns, was zu tun ist.« Hewitt, der sonst so oft Zurückhaltung übte, schnitt Vitus jedes weitere Wort ab.
    »Nun gut. Wenn ihr es nicht anders wollt: Ich werde heute Nacht an Bord der
Torment
klettern und versuchen, meine Kiepe mit dem Buch
De morbis
, meinen Instrumentenkoffer und meinen Stecken zu finden. Es sind für mich die wertvollsten Dinge auf der Welt, wie ihr wisst, und ich würde