Der Chirurg von Campodios
kriegen wir Besuch.«
Jetzt hörte Vitus es auch. Schwere Stiefel kletterten die Niedergänge hinunter, begleitet von Stimmengemurmel und Stufengeknarre. Eine Laterne warf flackerndes Licht in den Gang vor der Zelle. Sie wurde von einem Piraten gehalten, dessen Gesicht den beiden Freunden nichts sagte. Dafür umso mehr das folgende: Es gehörte Jawy.
»Da haben wir ja unser blondes Bürschchen.« Der Unterkiefer des Anführers mahlte. »Du hast es also doch geschafft, mich und meine
Torment
aufzuspüren. Wahrscheinlich hat Sanceur, das Schwein, dir was vorgesungen. Egal, es ist mir eine besondere Ehre, dich als meinen Gast begrüßen zu dürfen.« Die Stimme des Anführers troff vor Hohn. »Zumal du in Begleitung eines Bücherwurms bist.«
Der Magister schnellte hoch, sackte aber gleich wieder zusammen. Sein Kopf ließ noch keine raschen Bewegungen zu. »Was heißt hier Bücherwurm? Willst du mich etwa beleidigen, Nussknacker?«
Statt einer Antwort hielt Jawy das Nasengestell des kleinen Gelehrten hoch. »Als du letzte Nacht so plötzlich umgefallen bist, Bücherwurm, hast du dies hier verloren.« Langsam und hämisch grinsend begann er das Gestell zu verbiegen. Es gelang ihm nur mühsam, und Vitus vermerkte mit Genugtuung, dass dem Menschenschlächter die Bewegung wehtat. Die Verletzungen, die er bei dem Kampf in Sanceurs Haus davongetragen hatte, machten ihm ganz offenbar noch zu schaffen.
Vitus sagte: »Es scheint dir Spaß zu machen, die Sehhilfe des Magisters zu verbiegen. Nun, ich verspreche dir, beim nächsten Mal schlage ich dir die Hand ganz ab. Dann bist du zu solchem Unsinn nicht mehr in der Lage.«
Jawy amüsierte sich weiter. Er bog an dem Gestell, bis es nur noch ein unförmiger Klumpen war. Dann warf er es zu Boden und zerrieb die Gläser unter seinem Absatz. »So, ihr beiden Klugscheißer, habt ihr gesehen, was ich mit diesem Nasendings gemacht habe? Seid froh, dass euch nicht dasselbe passiert ist. Wenn ich gewollt hätte, wärt ihr schon lange bei den Fischen.«
Der kleine Gelehrte bebte vor Zorn. Ungeachtet seiner Kopfschmerzen sprang er auf, trat dicht an die Gitterstäbe heran und blickte dem Piraten furchtlos ins Gesicht. »Du kannst uns nicht drohen, Nussknacker! Du wirst einen triftigen Grund gehabt haben, uns nicht zu den Fischen zu schicken. Welcher war das? Und woher kamst du so plötzlich in deine Kajüte?«
»Das«, grinste Jawy überlegen, »möchte der Paragraphenverdreher Ramiro García wohl gerne wissen?«
Der kleine Mann blinzelte überrascht. »Woher kennst du meinen Namen?« Mechanisch fuhr seine Hand an die Augen, um die Berylle zurechtzurücken, doch er griff ins Leere.
»Jawy Cutter weiß mehr, als ihr Klugscheißer ahnt. Viel mehr! Jawy Cutter weiß auch den Namen des blonden Bürschchens. Vitus von Campodios nennt es sich, stimmt’s, Klugscheißer? Oder soll ich lieber, äh …«, seine Augen nahmen einen berechnenden Ausdruck an, »Lord Collincourt sagen?«
»Nun aber heraus mit der Sprache!« Vitus war ebenfalls hochgeschnellt, seine Hand schoss durch die Gitterstäbe und packte den Piraten am Ärmel.
»Vorsicht, Bürschchen!« Jawys Selbstsicherheit geriet vorübergehend ins Wanken. Doch sogleich setzte er wieder seine überlegene Miene auf. »Es geht dich einen Scheißdreck an, woher ich das weiß, aber was soll’s, irgendwann erfährst du’s ja doch.« Er wandte sich an den Piraten neben ihm: »Los, Blubber, erzähl den Klugscheißern, was heute Morgen passiert ist.«
»Ja, Jawy.« Blubber, ein Mann mit kleinen Augen und ausgeprägten Hängebacken, setzte umständlich die Laterne ab. »Ich un Rily un Tipper un Jim un Tom sin heut Morgen mit den Wasserfässern an Land gerudert, wollten ’n Bach auftreiben. Haben auch einen gefunden, gar nich weit im Busch drin, un was soll ich sagen, auf einmal denk ich, mir bleibt’s Herz stehn. Vor mir liegt ’n Mann auf ’m Boden un stöhnt un schreit wie der Leibhaftige, ich bück mich un will kucken, was los is mit ihm, un was soll ich sagen, ’s war Hewitt.«
»Hewitt? Um Gottes willen!«, entfuhr es dem Magister.
Jawy stutzte. »Ja, Hewitt. So heißt der Mann. Willst du damit etwa sagen, du kennst ihn, Paragraphenverdreher?«
»Ich? Woher denn? Ich, äh … hatte Stewitt verstanden, ein ehemaliger Student von mir, nicht Hewitt.«
»Das hätte mich auch gewundert.« Jawys Misstrauen erlosch. »Los, Blubber, erzähl weiter, damit die Klugscheißer Bescheid wissen, aber beeil dich, es geht schon gegen Abend,
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