Der Chirurg von Campodios
drängte den Freund zum Beiboot hinüber, damit dessen schwarzer Rumpf ihre Konturen verschluckte. Angespannt warteten sie auf eine Reaktion, aber die nach Wein dünstenden Gestalten, die verstreut auf dem Hauptdeck lagen, rückten und rührten sich nicht.
»Vino gratias«
, murmelte der kleine Gelehrte und zog sich damit ein weiteres Mal Vitus’ Unmut zu.
Wenig später eilten sie weiter zum Heck, vorbei an den hölzernen Lafetten der Sakers, vorbei an nachlässig aufgeschossenen Tauen, an Teertöpfen, Blöcken und allerlei Gerät, bis sie zu dem Niedergang kamen, der zum Oberdeck hinaufführte. Hier verschnauften sie kurz und blickten sich um. Keine Gefahr! Sie schlüpften durch die neben dem Niedergang befindliche Tür – eine Tür, die auf einem Kriegsschiff Ihrer Majestät rund um die Uhr bewacht worden wäre – und bahnten sich weiter ihren Weg nach achtern. Über ihnen verlief jetzt das Oberdeck, und vor ihnen tauchte der metallene Kopf des Gangspills auf. Sie umrundeten ihn, kamen zum Stand des Rudergängers, von dem der Kolderstab verwaist herübergrüßte, passierten auch diese Stelle und standen schließlich vor der schweren Tür, die zur Kajüte des Kapitäns führte.
Es war nur eine Vermutung von Vitus, aber er glaubte, dass seine Habe sich im Raum des Piratenführers befand. Von allem Gesindel, das zur Besatzung gehörte, war Jawy derjenige, dem er noch am ehesten zutraute, den Wert seines Instrumentenkoffers oder auch des Buches
De morbis
zu erkennen. Wer beides in England veräußerte, würde dafür einen beachtlichen Gegenwert in Gold bekommen.
Vorsichtig drückten sie die Klinke herunter. Die Tür öffnete sich, schwang nach innen und gab den Blick auf einen Raum frei, der keinesfalls einer typischen Kapitänskajüte glich. Jawy hatte sein Reich üppig mit Teppichen und Decken ausstaffiert; Sitzkissen, wie man sie aus dem Orient kannte, bedeckten den Boden, und überall an den Wänden hingen Waffen: Schwerter und Krummschwerter, Degen, Streitäxte, Entermesser und Rapiers. An der Steuerbordwand prangte eine farbenreiche Karte, auf der die Insel Kuba in ihren Umrissen festgehalten war. Die Bahía de Cabañas hatte jemand mit einem großen Kreuz gekennzeichnet.
Unter den bleiverglasten Fenstern, die zur Galerie hinauswiesen, stand eine einzelne Schatztruhe. Von der Größe her war sie das einzige Behältnis im Raum, das Vitus’ Habe aufnehmen konnte. Sie war von spanischer Bauart, mit schweren, eisernen Beschlägen und drei Schlössern. Um eine solche Truhe zu öffnen, waren unterschiedliche Schlüssel notwendig. Zwei hatte der Absender der Truhe, einen der Kapitän und einen weiteren, den Universalschlüssel, der König von Spanien, dem per Gesetz der
quinto
, also zwanzig Prozent des Schatzes, zustand.
Wenn nun der Absender, beispielsweise in Habana, die Truhe verschließen wollte, sicherte er zwei Schlösser. Dann nahm der Kapitän sie an Bord. Er konnte sie nicht öffnen, denn sein Schlüssel passte nur zum dritten Schloss, welches er ebenfalls sicherte. Zu diesem Zeitpunkt konnte auch der Absender die Truhe nicht mehr aufschließen, denn seine Schlüssel passten ja nur zu den ersten beiden Schlössern.
War der Kapitän mit der Schatztruhe glücklich in Spanien eingetroffen, übergab er sie dem König, der alle drei Schlösser mit seinem Universalschlüssel öffnen konnte. Ein ausgeklügeltes System, durch das Seine Allerkatholischste Majestät Philipp II . sicher sein durfte, von seinen Untertanen nicht betrogen zu werden.
Die Schlösser von Jawys Truhe waren, allem Erfindergeist zum Trotz, einfach aufgebrochen worden – und dennoch war ihr Deckel verschlossen. Jawy hatte ein eigenes Schloss anbringen lassen, ein vergleichbar schwaches. »Ich werde es aufhebeln«, sagte Vitus. Er und der Magister fühlten sich mittlerweile so sicher, dass sie wieder leise miteinander sprachen.
Vitus nahm ein stabiles Schwert von der Wand und brach damit das Schloss auf, denn Haffs guter Degen war ihm dafür zu schade. Gespannt öffneten sie den Deckel, blickten in die Truhe und sahen – nichts. Der Inhalt war mit einem samtenen Tuch abgedeckt worden. Der Magister griff nach einem Zipfel und riss es fort. »Abrakadabra«, murmelte er, »mal sehen, was die Kiste auf Lager hat.«
Es war überraschend wenig: silbernes Tafelgeschirr, darunter Teller, Becher und ein paar ziselierte Weinkrüge, einige Goldmünzen, drei oder vier handtellergroße Kreuze aus demselben Material und ein ledernes
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