Der Chirurg von Campodios
bei allen Gästen beliebt, doch war sie wesentliche Voraussetzung für den friedlichen Ablauf ihres Schankbetriebs. Wer in Polly’s Wharf lamentierte oder gar Händel anfing, bekam es mit ihr zu tun. Polly dabei zu beobachten, wie sie mit scharfer Zunge und beachtlicher Körperkraft ungebetene Zecher vor die Tür warf, war ein Genuss für sich. Nicht wenige ihrer Stammgäste fanden sich deshalb erst zu fortgeschrittener Stunde ein, zu einem Zeitpunkt also, wo die Wahrscheinlichkeit am größten war, dass Krakeeler die Wirtsstube aufsuchten und Polly in Aktion trat.
An diesem Abend wuchtete Polly gerade ein neues Brandyfässchen auf den Zapfbock, als fünf unbekannte Burschen den Gastraum betraten. Mit raschem Blick taxierte sie die Ankömmlinge und kam zu dem Schluss, dass sie harmlos waren, obwohl keiner von ihnen so aussah, als verdiene er sein Brot wie andere friedliche Menschen auch: als Bauer, Handwerker oder Händler. Ein recht passabler jüngerer Mann mit hellblonden Locken schien unter ihnen das Sagen zu haben, denn er entschied, wo sie sich niedersetzten. Er trug feste, gut geschnittene Reisekleidung, die allerdings im auffälligen Gegensatz zu seiner mehrfach ausgebesserten Kiepe und seinem alten, mannshohen Stecken stand. Ein kleinerer Mann mit Nasengestell, so um die dreißig, war noch dabei, dann ein rothaariger Zwerg mit Buckel und zwei Kerle mit O-Beinen, die das Gepäck hereinschleppten. Letztere waren die Einzigen, die einen Bart trugen.
Polly steckte sich die Pfeife in den Mund, stieß ein paar dicke Qualmwolken aus und beschloss, der Gruppe ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Sie ging hinüber und stemmte die Arme in die Hüften. »He, Gabriel, was treibt dich und deine Leute so spät noch in meinen Laden?«, herrschte sie den Blonden an. Der musterte sie verdutzt. Er hatte kluge, graue Augen und ein Grübchen im Kinn. »Gabriel? Wieso nennst du mich Gabriel?«
»Du hast blonde Locken wie der Erzengel Gabriel. Deshalb!«
Der Blonde lachte. »Eigentlich heiße ich Vitus, aber wenn es dir Spaß macht, nenne mich Gabriel!«
»Sag ich doch. Und ich heiße Polyhymnia. Für meine Freunde Polly.« Pollys Mutter war es, wie vielen Müttern aus der Gosse, bei der Geburt ziemlich egal gewesen, wie ihr uneheliches Kind heißen sollte. Diese Gleichgültigkeit allerdings war vom Kindesvater, einem ältlichen Buchhausierer, der die Lateinschule besucht hatte, keineswegs geteilt worden. Er hatte darauf bestanden, das Neugeborene nach der griechischen Muse der Lyrik und Musik zu nennen. Wie sich später herausstellte, gab es kaum einen Namen, der weniger zu Polly passte.
Jetzt meldete sich der mit dem Nasengestell: »Und ich bin Barnabas.«
»Barnabas?« Polly nahm die Pfeife aus dem Mund. »Komischer Name. Heißt du wirklich so?«
»Nein, aber ich habe so braune Haare wie der Barnabas aus der Bibel.«
Polly brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, dass sie auf die Schippe genommen worden war, doch dann brüllte sie auf vor Lachen. »Du gefällst mir, der Punkt geht an dich!« Sie schlug dem kleinen Mann krachend auf die Schulter. »Also, wie heißt du wirklich, und was trinkst du?«
»Magister und Brandy.«
»Hä? Also hör mal, Freundchen, wenn du mich schon wieder auf den Arm …«
»Aber Frau Wirtin! Wie könnte ich!« Der kleine Gelehrte blinzelte und rückte grienend sein Nasengestell zurecht. »Alle Welt nennt mich Magister, und Brandy ist mein Lieblingstrank.«
»Also Brandy für alle!«, fasste Polly zusammen. »Die erste Runde geht auf mich.« Sie drehte ab und nahm Kurs auf das Fässchen.
Der Magister beugte sich hinüber zu Vitus und flüsterte: »Das kann ja heiter werden. Mir war eigentlich gar nicht nach Brandy zumute, eher nach einer kräftigen Mahlzeit, aber da dieses Mannweib sich gerade an dem Fässchen zu schaffen machte, dachte ich …«
»Sooo, die Brandys.« Die Wirtin war schon wieder zurück. Schnelligkeit war eines der Geheimnisse ihres Erfolgs. Geräuschvoll stellte sie ein Tablett mit fünf gefüllten Bechern ab, wobei sie die Rufe der anderen Zecher wie »He, Polly, seit wann hast du die Spendierhosen an?« und »Mach gleich hier weiter, oder sollen deine Stammgäste verdursten?« gutmütig überhörte.
»Cheers, ihr Burschen!«
Der Blonde nahm einen Becher. »Cheers, Polly, trinkst du selbst nichts?«
»Erraten, Gabriel. Ich trinke nie mit Gästen. Unumstößliches Gesetz.«
Vitus nahm einen Schluck. »Dein Brandy ist gut, Polly. Steif wie ein Nordwest, der aus
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