Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
Kenjis stehe ihm das Recht zu, den Stamm zu führen.«
»Ich fürchte, auch andere halten es für falsch, dass Shizuka Oberhaupt der Muto ist. Eine Frau hatte diese Position noch nie inne und ein Bruch mit der Tradition gefällt den Leuten nicht. Sie murren und sagen, es sei eine Beleidigung der Götter. Nicht, dass sie stattdessen Zenko wollten â sie würden auf jeden Fall dich vorziehen. Aber die Einsetzung deiner Mutter hat für Spaltungen gesorgt.«
Maya hörte genau zu, schwieg aber. Sie spürte die Hitze des Feuers auf der einen Wange, auf der anderen die kalte Luft. Aus der Stadt drangen die Geräusche von Musik und Gesang zu ihnen, das rhythmische Schlagen von Trommeln, kehlige, unvermittelte Rufe.
»Heute habe ich ein Gerücht gehört«, fuhr Sada fort. »Man hat Kikuta Akio in Akashi gesehen. Vor zwei Wochen ist er nach Hofu aufgebrochen.«
»Dann müssen wir sofort jemanden nach Hofu schicken«, sagte Taku. »Um herauszufinden, wohin er will und was er vorhat. Reist er allein?«
»Er wird von Imai Kazuo und von seinem Sohn begleitet.«
»Wessen Sohn?« Taku richtete sich auf. »Doch nicht Akios?«
»Offenbar schon. Der Junge ist ungefähr sechzehn. Warum erschreckt dich das so?«
»WeiÃt du etwa nicht, wer dieser Junge ist?«
»Er ist Muto Kenjis Enkel, wie man weië, antwortete Sada.
»Mehr weiÃt du nicht?«
Sada schüttelte den Kopf.
»Das ist wohl ein Geheimnis der Kikuta«, murmelte Taku. Dann schien ihm Mayas Anwesenheit aufzufallen.
»Schick das Mädchen ins Bett«, sagte er zu Sada.
»Maya, geh und schlaf im Zimmer der Mägde«, befahl Sada. Vor einem Monat hätte Maya noch protestiert, doch sie hatte gelernt, Sada und Taku in allem zu gehorchen.
»Gute Nacht«, murmelte sie und stand auf.
»Schlieà die Fensterläden, bevor du gehst«, sagte Taku. »Langsam wird es kalt.«
Sada erhob sich, um ihr zu helfen. Maya fror, sobald sie nicht mehr am Feuer saÃ, und im Zimmer der Mägde fror sie noch mehr. Offenbar schliefen alle schon. Maya fand noch einen Schlafplatz zwischen zwei Mädchen. Sie zitterte. Sie wollte hören, was Taku erzählte, wollte bei ihm und Sada sein. Maya dachte an Fell, an das dicke, weiche Fell der Katze, das sie bedeckte und durch und durch wärmte, und plötzlich verwandelte sich das Zittern in ein machtvolles Schaudern, als die Katze ihre Muskeln anspannte und zum Leben erwachte.
Sie glitt unter der Bettdecke hervor, schlich lautlos aus dem Zimmer und war sich dabei ihrer riesigen Pupillen und ihres scharfen Sehvermögens bewusst. Ihr fiel wieder ein, dass die Welt in diesem Zustand voller kleiner Bewegungen war, die sie nie zuvor bemerkt hatte, und die ganze Zeit lauschte sie ängstlich auf die hohlen Stimmen der Toten. Sie war halb durch den Flur, als sie merkte, wie sie über dem Boden schwebte, und vor Angst schrie sie leise auf.
Männer und Frauen wälzten sich im Schlaf herum, als lieÃen unerträgliche Träume sie erzittern.
Ich kann die Türen nicht öffnen , dachte sie, doch der Geist der Katze wusste es besser, sprang auf die Fensterläden zu, glitt hindurch, schwebte über die Veranda und von dort in das Zimmer, in dem Sada und Taku eng umschlungen lagen. Maya überlegte, ob sie sich ihnen zeigen sollte, dachte, dass Taku sich bestimmt freuen und sie loben würde. Sie würde sich zwischen die beiden kuscheln und von ihnen wärmen lassen.
Sada nahm das Gespräch von vorhin auf, sie klang schon schläfrig, und was sie sagte, erschütterte Maya stärker als alles andere in ihrem bisherigen Leben. Die Worte hallten im untoten Geist der Katze wider.
»Dann ist der Junge tatsächlich Takeos Sohn?«
»Ja, und laut der Prophezeiung ist er der einzige Mensch, der ihm den Tod bringen kann.«
Auf diese Weise erfuhr Maya von der Existenz ihres Bruders und der Bedrohung für ihren Vater. Sie versuchte, still zu bleiben, konnte das erschrockene, verzweifelte Fauchen, das sich ihrer Kehle entrang, aber nicht unterdrücken. Sie hörte, wie Taku rief: »Wer ist da?«, und sie hörte Sadas erstaunten Schrei und dann sprang sie durch den Wandschirm in den Garten, als wollte sie bis in alle Ewigkeit rennen und allem entfliehen. Doch den Stimmen der Geister, die ihr etwas in die gespitzten Ohren zischten, konnte sie nicht entkommen und die Worte gingen ihr
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