Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
voran. Maya wollte sich willig zeigen, fürchtete sich aber vor dem, was mit ihr passieren würde. Sie sehnte sich häufig danach, mit ihrer Mutter und ihren Schwestern in Hagi zu sein. Sie wollte ein Kind sein. Sie wollte Shigeko gleichen, keine Stammesfähigkeiten haben und kein Zwilling sein. Den ganzen Tag einen Jungen zu spielen, war anstrengend, doch es war nichts im Vergleich mit den neuen Anforderungen. Früher hatte sie das Training beim Stamm leicht gefunden: Unsichtbarkeit und der Einsatz des zweiten Ichs waren ein Kinderspiel für sie, doch dieser neue Weg schien viel schwieriger und gefährlicher zu sein. Sie weigerte sich, ihn unter Takus Führung einzuschlagen, manchmal mit kaltem Trotz, manchmal voller Wut. Den Tod der Katze und ihre Besessenheit von deren Geist bereute sie inzwischen bitterlich. Sie bat Taku, sie davon zu befreien.
»Das kann ich nicht«, erwiderte er. »Ich kann dir nur helfen, ihn unter deine Kontrolle zu bringen und zu beherrschen.«
»Du hast getan, was du getan hast«, sagte Sada. »Jetzt musst du mit den Folgen leben.«
Dann schämte sich Maya für ihre Schwäche. Sie hatte sich eingebildet, es gefiele ihr, die Katze zu sein, doch diese war unheimlicher und furchterregender als erwartet. Sie wollte sie in eine andere Welt entführen, in die Welt der Geister und Gespenster.
»Das wird dir Macht verleihen«, sagte Taku. »Diese Macht ist schon vorhanden. Du musst sie nur ergreifen und nutzen!«
Doch obwohl Maya unter seiner Beobachtung und Anleitung mit dem Geist vertraut wurde, der in ihr lebte, schaffte sie nicht das, was er von ihr erwartete: die Gestalt der Katze anzunehmen und diese zu benutzen.
KAPITEL 25
Der Vollmond des zehnten Monats rückte näher und überall begann man mit den Vorbereitungen für das Herbstfest. In diesem Jahr war die allgemeine Aufregung noch gröÃer als sonst, weil Lord Otori und seine älteste Tochter Lady Shigeko, Erbin von Maruyama, bei der Feier zugegen sein würden. Jeden Abend gingen die Bürger der Stadt bunt gekleidet und mit neuen Sandalen in groÃer Zahl auf die StraÃen, sie tanzten, sangen und schwenkten die Hände über dem Kopf. Maya hatte zwar gewusst, dass ihr Vater geschätzt, ja sogar geliebt wurde, doch wie tief diese Zuneigung war, merkte sie erst, als sie die Menschen reden hörte, mit denen sie jetzt verkehrte. Auch die Nachricht, dass der inzwischen volljährigen Shigeko die Domäne von Maruyama in aller Form übertragen werden sollte, verbreitete sich.
»Das stimmt«, erwiderte Taku auf Mayas Frage. »Hiroshi hat mir schon davon erzählt. Sie wird ihren Namen jetzt in Lady Maruyama ändern.«
»Lady Maruyama«, wiederholte Maya. Das klang wie aus einer Legende, wie ein Name, den sie von Kindesbeinen an von Chiyo und Shizuka und den Bänkelsängern gehört hatte, die die Sagen der Otori an StraÃenecken und Flussufern vortrugen.
»Meine Mutter ist jetzt Oberhaupt des Stammes, und Lady Shigeko wird eines Tages über die Drei Länder herrschen. Besser, du wirst bald wieder zum Mädchen«, neckte Taku sie.
»Die Drei Länder interessieren mich nicht, aber ich wäre gern Oberhaupt des Stammes!«, erwiderte Maya.
»Da musst du warten, bis ich tot bin!«, sagte Taku lachend.
»Sag nicht so etwas!«, warnte Sada und berührte ihn am Arm. Er drehte sich zu ihr um und sah sie auf jene Art an, die Maya sowohl erregte als auch ihre Eifersucht weckte. Sie hielten sich zu dritt in dem kleinen Zimmer hinten im Haus des Stammes auf. Maya hatte Taku nicht schon wieder erwartet, denn er war erst am letzten Abend da gewesen.
»Wie du merkst, kann ich nicht von dir lassen«, hatte er der überraschten Sada gesagt, und da war sie es gewesen, die ihre Freude nicht verbergen konnte und ihn unbedingt berühren musste.
Die Nacht war kalt und klar, der Mond, vier Tage vor der vollen Rundung, schon dick und gelb. Trotz der frostigen Luft waren die Fensterläden geöffnet. In ihre Steppdecken gewickelt, saÃen sie dicht aneinandergedrängt vor dem kleinen Kohlenbecken. Taku trank Reiswein, der weder Sada noch Maya schmeckte. Die kleine Lampe brachte kaum Licht in das Dunkel des Zimmers, doch der Garten war erfüllt vom Mondlicht und von tiefen Schatten.
»Dann ist da noch mein Bruder«, sagte Taku, nun ganz ernst, zu Sada, »der meint, als ältester männlicherVerwandter
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