Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
Haus, der Sitte entsprechend, gereinigt worden war, brachte sie das Kind zu seinem Vater und legte es ihm in die Arme. »Das habe ich mir mein ganzes Leben lang gewünscht«, sagte sie. »Dir einen Sohn zu schenken.«
»Du hast mir bereits mehr gegeben, als ich mir je hätte wünschen können«, erwiderte Takeo bewegt. Die Zärtlichkeit, die er für das winzige, rotgesichtige, schwarzhaarige Geschöpf empfand, überraschte ihn â und auch sein Stolz darauf. Er liebte seine Töchter und hatte geglaubt, völlig zufrieden zu sein, doch seinen Sohn im Arm zu haben, erfüllte ein bislang unerkanntes Bedürfnis. Er merkte, wie ihm Tränen in die Augen traten, doch er konnte nicht aufhören zu lächeln.
»Du bist glücklich!«, rief Kaede. »Ich hatte schonAngst ⦠Du hast mir so oft gesagt, du bräuchtest keine Söhne und seiest zufrieden mit unseren Töchtern, dass ich dir fast geglaubt habe.«
»Ich bin glücklich«, entgegnete er. »Ich könnte jetzt sterben.«
»So empfinde ich auch«, murmelte sie. »Aber lass uns nicht vom Sterben reden. Wir werden leben und zuschauen, wie unser Sohn aufwächst.«
»Ich wünschte, ich müsste dich nicht verlassen.« Plötzlich kam ihm der Gedanke, die Reise nach Miyako abzusagen. Sollte der Hundefänger angreifen, wenn er wollte. Den Armeen der Drei Länder wäre es ein Leichtes, ihn zurückzuschlagen, und mit Zenko würden sie auch fertig. Die Stärke dieses Gefühls überraschte ihn. Er würde bis zum Tod kämpfen, um das Mittlere Land zu beschützen und diesem Otorikind zu ermöglichen, es zu erben. Diesen Gedanken erwog er lange, dann verwarf er ihn. Zuerst würde er es auf friedlichem Weg versuchen, genau wie beschlossen. Wenn er seine Reise aufschöbe, würde man ihn sowohl für arrogant als auch für feige halten.
»Das wünschte ich auch«, sagte Kaede. »Aber du musst dich auf den Weg machen.« Sie nahm ihm das Kind ab und sah ihn an, ihr ganzes Gesicht voller Liebe. »Mit diesem kleinen Mann an meiner Seite werde ich nicht einsam sein!«
KAPITEL 33
Takeo musste fast sofort aufbrechen, um den gröÃten Teil des Weges noch vor der Regenzeit zurückzulegen. Shigeko und Hiroshi trafen aus Maruyama ein, und aus Terayama kam Miyoshi Gemba. Miyoshi Kahei war bereits zu Beginn der Schneeschmelze mit dem GroÃteil des Heeres der Otori nach Osten aufgebrochen, fünfzehntausend Mann aus Hagi und Yamagata. Sonoda Mitsuru musterte weitere zehntausend in Inuyama. Seit dem letzten Sommer hatte man Vorräte an Reis und Weizen, Dörrfisch und Sojapaste angelegt und zur Ostgrenze geschickt, um die gewaltige Menge an Soldaten versorgen zu können. Zum Glück war die Ernte reich gewesen, und weder das Heer noch jene, die zu Hause blieben, mussten Hunger leiden.
Von allen Herausforderungen, die die Reise mit sich brachte, bestand die gröÃte im Transport des Kirin. Inzwischen war es noch gröÃer geworden, und sein Fell hatte sich zur Farbe von Honig verdunkelt, doch seine Ruhe und Gleichmütigkeit waren unverändert. Dr. Ishida war dagegen, das Kirin den ganzen Weg laufen zu lassen, weil das Gebirge der Hohen Wolken zu beschwerlich für es sei. SchlieÃlich fasste man den Beschluss, es solle in Begleitung von Shigeko und Hiroshi mit dem Schiff bis Akashi reisen.
»Wir könnten alle mit dem Schiff fahren, Vater«, schlug Shigeko vor.
»Ich habe die Grenzen der Drei Länder nie überschritten«, erwiderte Takeo. »Ich möchte das Gelände und die Pfade durch das Gebirge selbst in Augenschein nehmen. Wenn im achten und neunten Monat die Taifune einsetzen, müssen wir auf diesem Weg zurückkehren. Fumio segelt nach Hofu und er wird euch, das Kirin und auch die Fremden mitnehmen.«
Die Kirschblüten waren abgefallen und durch frische grüne Blätter ersetzt worden, als Takeo und sein Gefolge Hagi verlieÃen, die Gebirgspässe überquerten und dann auf der KüstenstraÃe nach Matsue ritten. Diese Reise hatte er oft zurückgelegt, seit er, ein stummer Junge hinten auf dem Pferd eines Gefolgsmannes, gemeinsam mit Lord Shigeru in die umgekehrte Richtung geritten war, doch sie weckte immer noch Erinnerungen an den Mann, der ihm das Leben gerettet und ihn adoptiert hatte.
Ich behaupte immer, an nichts zu glauben , dachte er, aber ich bete oft zu Shigerus Geist.
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