Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
sich nicht davon abbringen, mich zu provozieren.«
Shizuka sagte: »Mit jedem Jahr ähnelt er mehr seinem Vater. Ich kann nicht vergessen, dass Arai meinen Tod befohlen hat. Sowohl als Oberhaupt der Muto und als alte Freundin der Otori gebe ich dir den Rat, Zenko schnellstmöglich loszuwerden, bevor er sich noch mehr Unterstützung verschafft. Ich kann selbst dafür sorgen. Du brauchst es mir nur zu befehlen.«
Ihre Augen glänzten, doch sie weinte nicht.
»An dem Tag, als wir uns zum ersten Mal begegnetsind, hat Kenji gesagt, ich solle Unbarmherzigkeit von dir lernen«, sagte Takeo, erstaunt darüber, dass sie ihm so gelassen riet, ihren Sohn zu töten.
»Aber weder Kenji noch ich konnten sie dich lehren, Takeo. Zenko weià das, und darum lässt er sich weder von dir einschüchtern noch achtet er dich.«
Ihre Worte trafen ihn erstaunlich tief, doch er antwortete milde: »Ich habe mich selbst und dieses Land auf den Weg von Gerechtigkeit und friedlichen Verhandlungen festgelegt. Ich werde mich durch Zenkos Herausforderung nicht davon abbringen lassen.«
»Dann lass ihn verhaften und vor Gericht stellen, weil er deinen Umsturz geplant hat. Gib der Sache einen legalen Anschein, aber handele rasch.« Sie beobachtete ihn ein paar Augenblicke, und als er nichts erwiderte, fuhr sie fort: »Aber du wirst meinen Rat nicht befolgen, Takeo. Du musst nichts sagen. Natürlich bin ich dir dankbar dafür, dass du das Leben meines Sohnes verschonst, aber ich fürchte, wir werden alle einen unerträglich hohen Preis dafür bezahlen.«
Ihre Worte lieÃen ihm einen kalten Schauder der Vorahnung über den Rücken laufen. Die Sonne war untergegangen und im blauen Licht des Abends hatte sich der Garten verwandelt. Ãber dem Bach zuckten Glühwürmchen hin und her und er sah, wie Sunaomi und Chikara unterhalb der Mauer durch das Wasser platschten â offenbar hatten sie am Flussufer gespielt. Der Hunger trieb sie ins Haus. Er konnte ihren Vater unmöglich töten. Er würde die Jungen nur gegen sich und seine Familie aufbringen und damit die Fehde verlängern.
»Ich habe angeboten, Miki mit Sunaomi zu verheiraten«, bemerkte er.
»Ein kluger Schachzug.« Shizuka strengte sich sichtlich an, leichtherziger zu klingen. »Obwohl ich glaube, keines der beiden Kinder wird dir dies besonders danken. Behalte es vorerst für dich, denn vor allem Sunaomi wird die Vorstellung hassen. Der Vorfall im letzten Sommer hat ihn tief aufgewühlt. Wenn er älter ist, wird er begreifen, welche Ehre es bedeutet.«
»Es ist zu früh, um es offiziell bekannt zu geben â vielleicht, wenn ich Ende des Sommers zurückkehre.«
Als er Shizukas Miene sah, befürchtete er, sie könnte ihn noch einmal daran erinnern, dass er vielleicht kein Land mehr hätte, in das er zurückkehren könnte, doch sie wurden von einem Schrei im hinteren Teil des Hauses unterbrochen, wo sich die Frauengemächer befanden. Takeo hörte, wie Haruka auf der Veranda angerannt kam und den Nachtigallenboden singen lieÃ.
Im Garten starrten ihr die Jungen nach.
»Shizuka, Dr. Ishida!«, rief Haruka. »Kommen Sie schnell! Bei Lady Otori haben die Wehen eingesetzt.«
Wie Kaede von Anfang an gewusst hatte, war es ein Junge. Diese Nachricht wurde in der Stadt Hagi sofort gefeiert, wenn auch etwas zögernd, denn Säuglinge waren gefährdet und ihr Halt am Leben schwach und zerbrechlich. Doch die Geburt war schnell vonstattengegangen und das Baby war kräftig und gesund. Man konnte mit guten Gründen davon ausgehen, dass Lord Otori nun einen männlichen Erben hatte. Der Fluch, der, wiedie Leute untereinander flüsterten, der Geburt der Zwillinge zu verdanken war, schien aufgehoben worden zu sein.
Im Laufe der nächsten Wochen wurde die Neuigkeit mit gleicher Freude in den ganzen Drei Ländern aufgenommen, zumindest in Maruyama, Inuyama und Hofu. Möglicherweise war die Freude in Kumamoto nicht ganz so echt, doch Zenko und Hana brachten die angemessenen Gefühle zum Ausdruck und schickten kostbare Geschenke: Seidengewänder für das Baby, ein kleines Schwert aus dem Besitz der Araifamilie und ein Pony. Hana bereitete sich darauf vor, im Sommer nach Hagi zu reisen, denn sie wollte unbedingt ihre Söhne wiedersehen und ihrer Schwester in Abwesenheit Takeos Gesellschaft leisten.
Als Kaede sich aus dem Wochenbett erhob und das
Weitere Kostenlose Bücher