Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
er schaute sie immer auf eine Art an, die sie unerklärlicherweise erschaudern lieÃ, als seien sie auf irgendeine Art Komplizen, als kenne er alle ihre Geheimnisse. Er hatte eine ähnliche Katzenseele wie sie. In dieser Nacht flüsterte er ihren Namen, was ihr Angst einjagte, denn sie hatte nicht gewusst, dass er ihn kannte, und als sie erwachte, begriff sie, dass Sada ihn leise in ihr Ohr gesprochen hatte.
»Steh auf, zieh dich an. Wir brechen auf.«
Sie tat wie geheiÃen, ohne Fragen zu stellen, denn in den Wintermonaten hatte sie Gehorsam gelernt.
»Wir reiten nach Inuyama zu deinem Vater«, sagte Taku, als er sie auf die Stute setzte.
»Warum mitten in der Nacht?«
»Meinem Gefühl nach wäre es falsch, bis zum Morgen zu warten.«
Als die Pferde auf dem Weg zur HauptstraÃe durch die Stadt trabten, sagte Sada: »Erlaubt dein Bruder dir, dass du aufbrichst?«
»Genau darum reiten wir jetzt los. Er könnte einen Hinterhalt für uns vorbereiten oder uns verfolgen lassen. Sei bewaffnet und immer kampfbereit. Ich habe den Verdacht, man wird uns eine Falle stellen.«
Hofu war keine befestigte Stadt, und durch Hafen und Handel kamen und gingen die Menschen zu allen Stunden, je nach dem Stand des Mondes und der Gezeiten. In einer Nacht wie dieser, im Frühsommer und mitfast vollem Mond, waren auch andere Reisende auf der StraÃe unterwegs, und die kleine Schar â Taku, Sada, Maya und die vier Wachen â wurde weder angehalten noch befragt. Kurz nach Anbruch der Dämmerung hielten sie bei einer Herberge, um etwas zu essen und heiÃen Tee zu trinken.
Sobald sie im kleinen Schankraum allein waren, fragte Maya Taku: »Was ist passiert?«
»Um deiner Sicherheit willen erzähle ich dir ein bisschen. Dein Onkel Arai und seine Frau schmieden ein Komplott gegen deinen Vater. Wir dachten, wir könnten ihn im Zaum halten, aber die Lage ist plötzlich bedrohlicher geworden. Dein Vater muss sofort zurückkehren.«
Takus Gesicht war von Müdigkeit gezeichnet und er klang ernster als je zuvor.
»Wie können mein Onkel und meine Tante so etwas tun?«, fragte Maya zornig. »SchlieÃlich leben ihre Söhne in unserem Haushalt. Meine Mutter muss sofort davon erfahren. Die Jungen sollten sterben.«
»Du bist deinem Vater wirklich nicht sehr ähnlich«, sagte Sada. »Woher kommt diese Unbarmherzigkeit?« Doch sie klang zärtlich und bewundernd.
»Dein Vater hofft, dass niemand sterben muss«, sagte Taku zu Maya. »Darum müssen wir ihn zurückholen. Nur er besitzt genug Ansehen und Macht, um den Ausbruch eines Krieges zu verhindern.«
»AuÃerdem reist Hana heute nach Hagi.« Sada zog Maya zu sich heran und legte beide Arme um sie. »Sie soll den Sommer bei deiner Mutter und deinem kleinen Bruder verbringen.«
»Das ist ja noch schlimmer! Mutter muss gewarnt werden. Ich werde nach Hagi reiten und ihr erzählen, wie Hana in Wahrheit ist!«
»Nein, du bleibst bei uns«, erwiderte Taku und legte Sada einen Arm um die Schultern. Sie saÃen eine Weile schweigend da. Wie eine Familie , dachte Maya. Das hier werde ich nie vergessen: Das Essen hat so gut geschmeckt, weil ich so hungrig war, der Tee hat so würzig geduftet, ich habe den Wind gespürt und gesehen, wie sich das Licht verändert hat, als die groÃen weiÃen Wolken über den Himmel gesaust sind. Sada und Taku sind bei mir, so lebendig, so tapfer, und nun werden wir viele Tage auf der StraÃe unterwegs sein. Die Gefahr â¦
Der Tag blieb schön und trocken. Gegen Mittag flaute der Wind ab, die Wolken verschwanden im Nordosten und der Himmel war von klarem, strahlendem Blau. Der Schweià färbte Nacken und Flanken der Pferde dunkel, als sie die flache Küstenebene hinter sich lieÃen und zum ersten Pass aufstiegen. Der Wald ringsumher wurde immer dichter. Hin und wieder übte sich eine frühe Zikade im Zirpen. Maya wurde müde. Der Rhythmus des Pferdetrotts und die Wärme des Nachmittags lieÃen sie schläfrig werden. Sie glaubte zu träumen und erblickte plötzlich Hisao. Sie wurde schlagartig wach.
»Irgendjemand folgt uns!«
Taku hob eine Hand und sie hielten an. Alle drei hörten es: das Hufgetrappel von Pferden, die den Berghang heraufgaloppierten.
»Reite mit Maya weiter«, sagte Taku zu Sada. »Wirhalten sie auf. Es sind nicht viele, höchstens ein Dutzend. Wir
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