Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
aus Stroh: die in Maruyama gezüchteten Pferde, ein jedes mit zwei Seilen am Kopf und mit einem Band unter dem Bauch festgebunden, und das Kirin, das von roten Seidenkordeln gehalten wurde. Shigeko verbrachte den GroÃteil des Tages in der Nähe der Tiere. Sie war stolz auf die Gesundheit und Schönheit der Pferde, denn sie hatte sie selbst aufgezogen: die zwei Apfelschimmel, einer hell, einer dunkel, der leuchtende Fuchs und der Rappe. Die Pferde kannten sie und schienen ihre Gesellschaft zu genieÃen, folgten ihr mit Blicken, wenn sie sie verlieÃ, um auf Deck herumzuspazieren, und wieherten ihr zu. Die Vorstellung, sich von ihnen zu trennen, beunruhigte sie nicht. Man würde sie gut behandeln, und auch wenn sie ihre alte Herrin nicht vergäÃen, trauerten sie ihr nicht nach. Das Kirin machte ihr gröÃere Sorgen. Denn trotz seiner Sanftmütigkeit hatte das exotische Geschöpf nicht die unbekümmerte Natur eines Pferdes. »Ich fürchte, es wird darunter leiden, von uns und allen anderen Gefährten getrennt zu sein«, sagte sie am Nachmittag des dritten Tages nach ihrem Aufbruch aus Hofu zu Hiroshi. »Schau nur, wie es immer wieder in Richtung Heimat blickt. Es sieht aus, als sehnte es sich nach jemandem â vielleicht nach Tenba.«
»Mir ist aufgefallen, dass es immer in Ihre Nähe drängt, wenn Sie zu ihm gehen«, erwiderte Hiroshi. »Es wird Sie bestimmt vermissen. Ich bin überrascht, dass Sie es über das Herz bringen, sich von ihm zu trennen.«
»Das habe ich doch selbst zu verantworten! Es war ja mein Vorschlag. Es ist ein unendlich kostbares Geschenk â sogar der Kaiser dürfte erstaunt und geschmeichelt sein. Aber ich wünschte, es wäre eine Skulptur aus Elfenbein oder aus irgendeinem Edelmetall, denn dann hätte es keine Gefühle und ich müsste mich nicht sorgen, weil es sich vielleicht einsam fühlen könnte.«
Hiroshi musterte sie eindringlich. »Letzten Endes ist es nur ein Tier. Möglicherweise leidet es nicht so sehr, wie Sie glauben. Man wird sich aufmerksam darum kümmern und es gut füttern.«
»Tiere können tief empfinden«, erwiderte Shigeko.
»Aber es wird nicht das empfinden, was Menschen empfinden, die von jenen getrennt sind, die sie lieben.«
Shigeko sah ihm einige Momente fest in die Augen. Er wandte den Blick zuerst ab.
»Und vielleicht fühlt sich das Kirin in Miyako gar nicht einsam«, sagte er leise, »weil Sie auch dort sein werden.«
Sie wusste, was er meinte, denn sie war dabei gewesen, als Lord Kono ihrem Vater von Saga Hidekis kürzlichem Verlust erzählt hatte, ein Verlust, durch den er, der mächtigste Kriegsherr der Acht Inseln, wieder neu heiraten konnte.
»Wenn das Kirin das kostbarste aller Geschenke für den Kaiser sein soll«, fuhr er fort, »dann könnte esdoch kein besseres Geschenk für den General des Kaisers geben.«
Sie hörte die Bitterkeit aus seiner Stimme heraus und spürte einen Stich im Herzen. Seit einiger Zeit schon wusste sie, dass Hiroshi sie genauso tief liebte wie sie ihn. Zwischen ihnen beiden bestand eine seltene Harmonie, es war, als könnten sie die Gedanken des jeweils anderen lesen. Sie waren beide im Weg des Houou ausgebildet und hatten eine hohe Aufmerksamkeit und Sensibilität entwickelt. Sie vertraute ihm voll und ganz. Trotzdem wäre es sinnlos gewesen, über ihre Gefühle füreinander zu sprechen oder diese voll anzuerkennen, denn sie würde den Mann heiraten, den ihr Vater für sie auswählte.
Manchmal träumte sie, er hätte Hiroshi ausgewählt, und erwachte voller Freude und Verlangen. Dann lag sie im Dunklen und streichelte ihren eigenen Körper, sehnte sich danach, seine Kraft zu spüren, befürchtete, dass es nie dazu käme, fragte sich, ob sie nun, da sie Herrscherin ihrer eigenen Domäne war, nicht einfach selbst entscheiden und ihn zu ihrem Mann nehmen könnte. Zugleich wusste sie, dass sie nie entgegen den Wünschen ihres Vaters handeln würde. Sie war dem strengen Kodex einer Kriegerfamilie gemäà erzogen worden, und diesen konnte sie nicht einfach so verletzen.
»Ich hoffe, ich muss nie weit entfernt von den Drei Ländern leben«, murmelte sie. Das Kirin stand so dicht neben ihr, dass sie seinen warmen Atem auf ihrem Nacken spüren konnte, als es seinen langen Hals zu ihr herabbeugte. »Ich muss gestehen, ich fürchte
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