Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
holen euch wieder ein.«
Er gab den Männern einen Befehl. Diese nahmen die Bogen vom Rücken, lenkten ihre Pferde von der StraÃe und verschwanden zwischen den Bambusstämmen.
»Reitet los«, befahl Taku Sada. Zögernd setzte sie ihr Pferd in Trab, gefolgt von Maya. Eine ganze Weile ritten sie schnell, doch als die Pferde ermüdeten, hielt Sada an und sah zurück.
»Maya, was hörst du?«
Sie glaubte, das Aufeinanderklirren von Stahl zu hören, Pferdegewieher, Rufe und Schlachtengebrüll und noch ein anderes Geräusch, kalt und brutal, das durch den Pass hallte und die Vögel erschrocken aufkreischen und davonstieben lieÃ. Sada hörte es auch.
»Sie haben Feuerwaffen«, rief sie. »Bleib hier â nein, reite weiter, versteck dich. Ich muss zurück. Ich kann Taku nicht allein lassen.«
»Ich auch nicht«, murmelte Maya und wendete die müde Stute in die Richtung, aus der sie gekommen waren, doch in diesem Moment sahen sie in der Ferne eine Staubwolke und hörten galoppierende Hufe, erblickten das graue Fell und die schwarze Mähne des Pferdes.
»Er kommt«, rief Sada erleichtert.
Taku hielt das Schwert in der Hand, sein Arm war von Blut bedeckt â unmöglich zu sagen, ob es seines oder das eines anderen war. Als er sie sah, rief er ihnen etwas zu, doch Maya konnte ihn nicht verstehen, und noch während er rief, stürzte Ryume, sein Pferd. Erst lag es auf den Knien, dann fiel es auf die Seite. All das ging sehrschnell: Ryume war tot umgefallen und hatte Taku auf die StraÃe geworfen.
Sada galoppierte sofort auf ihn zu. In Gegenwart des Todes schnaubte ihre Stute mit wildem Blick. Taku kam wieder auf die Beine. Sada hielt neben ihm, ergriff ihn bei den ausgestreckten Armen und schwang ihn hinter sich auf ihr Pferd.
Es geht ihm gut , dachte Maya mit der Klarsichtigkeit der Erleichterung. Wenn er verletzt wäre, hätte er das nicht geschafft.
Taku war nicht schlimm verletzt, obwohl auf der StraÃe hinter ihm viele Tote lagen, seine eigenen Männer und die meisten der Angreifer. Er spürte einen brennenden Schnitt im Gesicht und einen am Schwertarm. Er spürte die Kraft von Sadas Rücken, als er sich an ihr festhielt, und dann krachte noch ein Schuss. Er spürte, wie ihm die Kugel in den Nacken schlug und seinen Hals durchdrang, und im nächsten Moment fiel er, und Sada fiel mit ihm, und das Pferd stürzte auf die beiden. In weiter Ferne hörte er Maya schreien. Reite, Kind, reite, wollte er sagen, hatte aber keine Zeit mehr. Er sah zum strahlend blauen Himmel auf, und dann begann das Licht zu schwirren und zu vergehen. Die Zeit stand still. Er hatte kaum noch Zeit zu denken: Ich sterbe, ich muss mich auf das Sterben konzentrieren , bevor das Dunkel seine Gedanken für immer auslöschte.
Sadas Stute kam auf die Beine und trottete laut wiehernd zu Mayas Pferd zurück. Beide Stuten scheuten und waren trotz ihrer Müdigkeit kurz davor, durchzugehen. Mayas Otoriblut lieà sie zuerst an die Pferde denken â sie durften nicht entkommen. Sie bückte sich und ergriff den schleifenden Zügel von Sadas Stute. Doch was sie als Nächstes tun sollte, wusste sie nicht. Sie zitterte am ganzen Körper, genau wie die Pferde, und sie konnte die Augen nicht von den drei Leichen abwenden, die auf der StraÃe lagen. Hinten das Pferd Ryume und weiter vorne Sada und Taku, im Tod ineinander verschlungen.
Maya ritt zu ihnen zurück, stieg ab und kniete sich neben sie, berührte sie, rief ihre Namen.
Sadas Augenlider flatterten. Sie lebte noch.
Mayas Brust war vor Verzweiflung so verkrampft, dass sie kaum noch Luft bekam. Daher riss sie den Mund auf und schrie: »Sada!« Wie als Antwort auf den Schrei erschienen dicht hinter Ryume plötzlich zwei Männer auf der StraÃe. Maya wusste, dass sie eigentlich die Flucht ergreifen, Unsichtbarkeit oder Katzengestalt annehmen und in den Wald fliehen müsste: Sie gehörte zum Stamm und sie konnte alle austricksen. Doch Schock und Trauer lähmten sie, und auÃerdem wollte sie nicht in dieser neuen, herzlosen Welt leben, die es zugelassen hatte, dass Taku bei strahlendem Sonnenschein und unter einem blauen Himmel gestorben war.
Sie stand zwischen den beiden Stuten, in jeder Hand einen Zügel. Am vorletzten Abend hatte sie die beiden Männer im Zwielicht der Schänke nicht richtig sehen können, aber sie erkannte sie sofort. Beide
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