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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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Ställen, in denen die Maruyamapferde mit den Hufen stampften und die Köpfe hin und her warfen, und vor diesen Ställen stand das Kirin in einem Gehege aus Bambusstäben, das auf einer Seite ein Strohdach hatte. Vor dem Tor hatte sich eine recht große Menschenmenge versammelt, um einen Blick auf das Kirin zu erhaschen: Kinder waren auf die Bäume geklettert und ein abenteuerlustiger junger Mann eilte mit einer Leiter herbei.
    Lord Saga war der Einzige in der Schar, der das sagenhafte Geschöpf noch nie erblickt hatte. Alle starrten ihn mit gespannter Vorfreude an. Und sie wurden nicht enttäuscht. Selbst Saga, dessen Selbstbeherrschung so groß war, konnte nicht verhindern, dass ein Ausdruck tiefsten Erstaunens sein Gesicht überflog.
    Â»Es ist viel größer, als ich geglaubt hatte!«, rief er. »Es muss unglaublich stark und schnell sein.«
    Â»Es ist sehr sanftmütig«, sagte Shigeko und ging zum Kirin. In diesem Moment kam Hiroshi aus den Ställen, Tenba am Zügel, der tänzelte und scheute.
    Â»Lady Maruyama«, rief er. »So früh hatte ich Sie nicht zurückerwartet.« Ein kurzes Schweigen trat ein. Takeo sah, dass Hiroshi beim Anblick Sagas erbleichte.Dann verneigte sich der junge Mann, so gut es ging, während er versuchte, das Pferd unter Kontrolle zu halten, und sagte hölzern: »Ich habe Tenba geritten.«
    Das Kirin begann, aufgeregt umherzulaufen, als es jene drei Geschöpfe sah, die ihm die liebsten waren.
    Â»Ich lasse Tenba wieder zu ihm«, sagte Hiroshi. »Es vermisst ihn. Nach ihrer Trennung scheint es mehr an ihm zu hängen denn je!«
    Saga sprach ihn an, als wäre er ein Pferdeknecht. »Hol das Kirin heraus. Ich will es aus der Nähe sehen.«
    Â»Gewiss, Lord«, erwiderte Hiroshi, indem er sich noch einmal tief verneigte. Er bekam wieder Farbe auf Hals und Wangen.
    Â»Das Pferd sieht außerordentlich gut aus«, bemerkte Saga, als Hiroshi Tenba an die Stricke band, die an jeder Seite der Ecke des Stallgebäudes befestigt waren. »Temperamentvoll. Und ziemlich groß.«
    Â»Wir haben Pferde aus Maruyama als Geschenk mitgebracht«, erzählte Takeo ihm. »Sie sind von Lady Maruyama und ihrem obersten Gefolgsmann, Lord Sugita Hiroshi, gezüchtet und aufgezogen worden.« Als Hiroshi das Kirin an der roten Seidenkordel ins Freie führte, fügte Takeo hinzu: »Dies ist Sugita.«
    Saga nickte Hiroshi nachlässig zu, denn seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Kirin. Er streichelte das gescheckte Fell. »Weicher als eine Frau!«, rief er. »Stellen Sie sich vor, es läge als Decke auf Fußboden oder Bett.« Und als würde er sich plötzlich des betretenen Schweigens bewusst, fügte er hinzu: »Natürlich erst, nachdem es an Altersschwäche gestorben ist.«
    Das Kirin beugte den langen Hals und fuhr Shigeko mit der Schnauze über die Wange.
    Â»Sie mag es am liebsten, wie ich sehe«, sagte Saga und wandte ihr seinen bewundernden Blick zu. »Ich gratuliere Ihnen, Lord Otori. Der Kaiser wird von Ihrem Geschenk tief beeindruckt sein. Dergleichen hat man in der Hauptstadt noch nie zu Gesicht bekommen.«
    Die Worte waren großmütig, doch Takeo meinte, Neid und Groll aus der Stimme des Mannes herauszuhören. Nachdem sie sich weitere Pferde angeschaut und zwei Stuten und zwei Hengste an Lord Saga übergeben hatten, kehrten sie zu dessen Residenz zurück. Allerdings nicht zu dem streng eingerichteten Audienzraum, in dem sie zuvor gewesen waren, sondern in einen der prunkvoll geschmückten Säle, dessen eine Wand einen fliegenden Drachen, eine andere einen pirschenden Tiger zeigte. Hier setzte sich Saga nicht auf den Fußboden, sondern fast wie der Kaiser selbst auf einen geschnitzten Holzstuhl aus Shin. Weitere seiner Gefolgsleute stießen zum Treffen und Takeo spürte, wie neugierig sie auf ihn und vor allem auf Shigeko waren. Dass eine Frau auf diese Art zwischen Männern saß und an deren politischen Erörterungen teilnahm, war ungewöhnlich. Er hatte das Gefühl, als wären sie geneigt, diesen Bruch mit der Sitte als Beleidigung aufzufassen. Doch der Stammbaum von Maruyama reichte viel weiter zurück als der Sagas und seines Clans aus dem Osten oder der irgendeines seiner Vasallen – er war ebenso alt wie der Stammbaum der Kaiserfamilie, die über legendäre Kaiserinnen von der Sonnengöttin selbst abstammte.
    Zuerst

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