Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
getroffen. Vermutlich ist er innerhalb von Sekunden verblutet. Die gleiche Kugel hat Sada aus dem Sattel gerissen, aber sie ist nicht an dem Sturz gestorben â man hat ihr die Kehle durchgeschnitten.«
»Akio besitzt Feuerwaffen? Wo hat er sie her?«
»Er hat sich den ganzen Winter in Kumamoto aufgehalten. Wahrscheinlich haben die Arai ihn damit ausgerüstet. Sie haben mit den Fremden Handel getrieben.«
Takeo saà schweigend da. Plötzlich erinnerte er sich daran, wie sich Takus Hals angefühlt hatte, als er damals in seinem Zimmer in Shuho aufgewacht war und ihn entdeckt hatte: Taku war neun oder zehn Jahre alt gewesen und er hatte seine Halsmuskeln angespannt, um den Eindruck zu erwecken, älter und stärker zu sein, als er esin Wahrheit war. Diese Erinnerung, der nach kurzer Zeit weitere folgten, hätte ihn fast überwältigt. Er schlug die Hände vors Gesicht und bemühte sich, sein Schluchzen zu bezähmen. Seine Trauer wurden durch seine rasende Wut auf Zenko gesteigert, den er verschont hatte, nur um erleben zu müssen, wie dieser an der Ermordung seines Bruders mitgewirkt hatte. Taku hat Zenkos Tod verlangt , dachte er. Und Shizuka auch â sogar sie. Und jetzt haben wir jenen Bruder verloren, den wir so dringend gebraucht hätten.
»Lord Otori«, sagte Mai zögernd. »Soll ich jemanden rufen?«
»Nein!«, sagte er. Der Moment der Schwäche war vorüber, und er gewann seine Selbstbeherrschung wieder. »Du weiÃt nicht, wie unsere Lage hier aussieht. Du darfst niemandem etwas von diesen Ereignissen erzählen. Der Ablauf der nächsten Tage darf auf keinen Fall durcheinandergebracht werden. Es steht ein Wettkampf bevor, an dem meine Tochter und Lord Hiroshi teilnehmen. Sie dürfen durch nichts abgelenkt werden. Sie dürfen erst nach dem Wettkampf davon erfahren. Niemand darf davon erfahren.«
»Aber es wäre am besten, wenn Sie sofort in die Drei Länder zurückkehrten! Zenko â¦Â«
»Ich werde so bald wie möglich zurückkehren. Früher als geplant. Aber ich darf weder meine Gastgeber beleidigen â Lord Saga, den Kaiser persönlich â, noch darf Saga Wind von Zenkos Verrat bekommen. Im Augenblick genieÃe ich eine gewisse Gunst, aber das kann sich jederzeit ändern. Sobald wir wissen, wie der Wettkampfausgegangen ist, werde ich Vorbereitungen für meine Rückkehr treffen. Das bedeutet, dass wir möglicherweise in den Regen geraten, aber daran kann man nichts ändern. Du reist natürlich mit uns, aber fürs Erste muss ich dich bitten, dich von diesem Haus fernzuhalten. Shigeko könnte dich erkennen. Es ist nur bis übermorgen. Spätestens dann werde ich ihr und Hiroshi die Neuigkeiten erzählen.«
Er sorgte dafür, dass man Mai Geld gab und ihr eine Unterkunft besorgte, und dann brach sie auf und versprach, in zwei Tagen wiederzukommen.
Mai hatte die Residenz gerade verlassen, als Shigeko und Gemba zurückkehrten. Sie hatten nach den Pferden geschaut, die Sättel und das Zaumzeug für den nächsten Tag vorbereitet und ihre Strategie diskutiert. Shigeko, sonst immer so ruhig und selbstbeherrscht, hatte nach den Ereignissen des Tages leuchtende Augen und freute sich auf den Wettkampf. Takeo war erleichtert, denn eigentlich hätten ihr sein Schweigen und seine Niedergeschlagenheit auffallen müssen. Und er war auch froh darüber, dass sie im dunklen Zimmer sein Gesicht nicht richtig sehen konnte.
»Ich muss dir Jato zurückgeben, Vater«, sagte sie.
»Ganz bestimmt nicht«, erwiderte er. »Der Kaiser hat es dir geschenkt. Von jetzt an gehört es dir.«
»Aber es ist zu lang für mich, wirklich«, wandte sie ein.
Takeo zwang sich zu einem Lächeln. »Trotzdem â es gehört dir.«
»Ich werde es dem Tempel überlassen, bis â¦Â«
»Bis was?«, forderte er sie auf, ihren Satz zu vollenden.
»Bis entweder dein Sohn oder mein Sohn alt genug ist, um es zu tragen.«
»Das wäre nicht das erste Mal, dass es dort liegt«, erwiderte er. »Aber es gehört dir, und es bestätigt dich nicht nur als Erbin der Maruyama, sondern auch der Otori.«
Während er sprach, wurde Takeo bewusst, dass die Frage ihrer Heirat durch die Anerkennung des Kaisers noch wichtiger geworden war. Durch seinen Segen würde sie die Drei Länder mit in die Ehe bringen, egal, wen sie heiratete. Doch
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