Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
Familie sein sollte. Früher war ich so unglaublich gern hier. Ich habe mich sicher gefühlt und alle mochten mich. Jetzt verstummen die Männer, wenn ich vorbeikomme, und die anderen Kinder weichen mir aus. Was geht da vor, Shizuka?«
»Männer murren immer über dieses und jenes. Irgendwann hört das auf«, antwortete Shizuka.
»Nein, das hat mehr zu bedeuten«, sagte Miki mit groÃem Nachdruck. »Irgendetwas Schlimmes ist im Gange. Maya schwebt in einer furchtbaren Gefahr. Du weiÃt ja, wie wir miteinander verbunden sind â wir wissen, was der jeweils anderen passiert. Das war schon immer so. Und jetzt spüre ich, dass sie um Hilfe ruft, aber ich weià nicht, wo sie ist.«
»Sie ist bei Taku und Sada in Hofu«, sagte Shizuka mit einer Ãberzeugung, die ihre eigene Unsicherheit verbarg, denn es stimmte, dass die Zwillinge von Anfang an auf eine fast übernatürliche Art miteinander verbunden gewesen waren und gegenseitig ihre Gedanken über weite Entfernungen hinweg hatten lesen können.
»Nimmst du mich mit, wenn du dorthin reist?«
»Ja, das sollte ich vielleicht tun.«
Ich muss sogar , dachte sie. Ich kann sie jetzt nicht hierlassen, weil man sie irgendwie gegen Takeo einsetzen könnte. Je früher ich mit Taku und Zenko spreche, desto besser. Wir müssen die Frage der Führung des Stammes klären, bevor diese Unzufriedenheiten auÃer Kontrolle geraten.
»Wir brechen übermorgen auf.«
Den ganzen nächsten Tag beriet sich Shizuka mit den jungen Männern, die inzwischen das Rückgrat der Mutofamilie bildeten. Man behandelte sie ehrerbietig und hörte ihr höflich zu, denn ihre Herkunft, ihr Lebenslauf und ihre Fähigkeiten nötigten den Männern Achtung ab. Manche fürchteten sie sogar. Shizuka stellte erleichtert fest, dass sie sie trotz ihres Alters und ihrer schmalen Gestalt beherrschen und kontrollieren konnte. Sie wiederholte ihre Absicht, die Führungsfrage mit Zenko und Taku zu erörtern, und unterstrich, dass sie ihr Amt als Oberhaupt nicht vor der Rückkehr Takeos aus dem Osten niederlegen wolle, dass es Kenjis Wunsch entspreche und dass sie, den Traditionen der Muto gemäÃ, absolute Treue erwarte.
Niemand murrte oder widersprach, als sie verkündete, Miki mitnehmen zu wollen, doch als sie zwei Tage später wieder auf den Pferden saÃen und nach Yamagata unterwegs waren, sagte Bunta: »Im Dorf weià man natürlich, dass du misstrauisch bist. Hättest du Vertrauen, dann hättest du Miki dort gelassen.«
»Im Augenblick traue ich niemandem.« Sie trabten nebeneinanderher. Miki, die hinten auf dem Pferd des Jungen saÃ, ritt ihnen voraus. Shizuka plante, in Yamagata ein weiteres Pferd aus den Ställen Lord Miyoshis zu leihen. Dann wären sie beide beweglicher und weniger gefährdet.
Sie drehte sich um und sah Bunta in die Augen. »Irre ich mich? Kann ich dir vertrauen?«, fragte sie herausfordernd.
»Ich will ganz ehrlich mit dir sein. Alles hängt davon ab, wie der Stamm entscheidet. Ich werde dir jedenfallsnicht im Schlaf die Kehle durchschneiden, wenn du das meinst. Dazu kenne ich dich schon zu lange â und im Ãbrigen habe ich Frauen noch nie gern getötet.«
»Dann sagst du mir also Bescheid, bevor du mich verrätst«, sagte sie.
Bunta musste leise lächeln. »Ja, ich sage dir Bescheid.«
»Schick Bunta und seinen Sohn zurück«, sagte Miki, sobald sie in Yamagata angekommen und allein miteinander waren. Shizuka hatte nicht im Mutohaus übernachten wollen, sondern war lieber in das Schloss gegangen. Dort wurden sie von Kaheis Frau begrüÃt, die sie überreden wollte, länger zu bleiben, und als ihr dies nicht gelang, bot sie ihnen sowohl eine Eskorte als auch das benötigte Pferd an.
»Das ist eine schwierige Entscheidung«, sagte Shizuka zu Miki. »Wenn ich sie zurückschicke, habe ich unterwegs keinen Kontakt mehr zur Mutofamilie und würde Bunta noch stärker von mir entfremden. Wenn ich Lady Miyoshis Angebot annehme, bist du als Tochter Lord Otoris zu erkennen und wir würden nicht mehr geheim reisen.«
Bei dieser Aussicht schnitt Miki eine Grimasse. Shizuka lachte. »Entscheidungen zu treffen ist nicht so einfach, wie du glaubst.«
»Warum können wir nicht allein aufbrechen? Nur wir beide?«
»Zwei Frauen, die allein und ohne Eskorte oder Diener reisen, erregen
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