Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
damit rechnen, dass ihre Söhne eines frühen, gewaltsamen Todes starben. Jungen wurden dazu erzogen, keine Angst vor dem Tod zu haben, und Mädchen war es nicht gestattet, Schwäche oder Trauer zu zeigen. Um das Leben eines anderen zu fürchten, bedeutete, sich an diesen Menschen binden zu wollen, und sie hatte erlebt, wie die überbehütende Liebeeiner Mutter Jungen zu Feiglingen machte oder sie unachtsam werden lieÃ. Taku war tot und sie trauerte um ihn, doch sein Tod bedeutete, dass er Takeo nicht verraten hatte, da war sie sich sicher: Man hatte ihn wegen seiner Treue getötet. Sein Tod war nicht zufällig oder bedeutungslos gewesen.
Auf diese Weise vermochte sie sich in den nächsten Tagen auf dem Ritt nach Hofu zu trösten und zu stärken. Sie war entschlossen, dort nicht als eine verzweifelte, trauernde Mutter, sondern als Oberhaupt der Mutofamilie zu erscheinen. Sie würde keine Schwäche zeigen, sondern herausfinden, wie ihr Sohn gestorben war, und seine Mörder ihrer gerechten Strafe zuführen.
Es wurde heià und schwül. Selbst der Wind vom Meer brachte der Hafenstadt keine Abkühlung. In diesem Frühling hatte es kaum geregnet, und die Menschen befürchteten einen heiÃen Sommer, vielleicht sogar eine Dürre, die erste seit mehr als sechzehn Jahren. Seit vielen Jahren waren die Frühlingsregen und die Regenzeit im Sommer immer pünktlich und reichlich gewesen, und viele junge Menschen hatten nie erlebt, wie schwierig es werden konnte, wenn der Regen ausblieb.
In der Stadt herrschte eine unruhige Stimmung, die nicht nur am drückenden Wetter lag. Täglich registrierte man mehrere böse Omen: In den Laternen vor dem Daifukujitempel sah man von Verhängnis sprechende Gesichter und ein Vogelschwarm hatte unheilvolle Zeichen an den Himmel geschrieben. Gleich bei ihrer Ankunft bemerkte Shizuka die aufrichtige Trauer und Wut derBürger der Stadt über Takus Tod. Sie begab sich nicht zur Residenz der Arai, sondern blieb in einer Herberge mit Blick auf den Fluss, nicht weit vom Umedaya. Am ersten Abend erzählte ihr der Wirt, dass man Taku und Sada in Daifukuji begraben habe. Sie schickte Bunta los, um Zenko über ihre Ankunft in Kenntnis zu setzen, und stand früh am nächsten Morgen auf. Miki schlief noch und schien einen lebhaften Traum zu haben, denn ihre Glieder zuckten und ihre Lippen bewegten sich. Shizuka ging zum Flussufer, wo der rote Tempel, der zum Meer zeigte, um die Seeleute im Mittleren Land zu begrüÃen, zwischen den heiligen Bäumen stand. Gesänge drangen aus seinem Inneren und Shizuka erkannte die klangvollen und heiligen Worte der Sutras für die Toten.
Zwei Mönche spritzten Wasser auf die Plankenwege, bevor sie diese fegten. Einer von ihnen erkannte Shizuka und sagte zum anderen: »Führe Lady Muto zum Friedhof. Ich werde den Abt benachrichtigen.«
Sie spürte ihr Mitgefühl und war ihnen dankbar dafür.
Unter den hohen Bäumen war es etwas kühler. Der Mönch führte sie zu den frischen Gräbern. Sie hatten noch keine Steine. Daneben brannten Lampen und irgendjemand hatte als Opfergabe Blumen davorgelegt â purpurfarbene Iris. Shizuka zwang sich dazu, sich ihren Sohn vorzustellen, wie er im Kasten unter der Erde lag, sein kräftiger, beweglicher Körper erstarrt, sein schneller, scharfer Verstand zum Stillstand gebracht. Sein Geist wanderte gewiss ruhelos zwischen den Welten und verlangte nach Gerechtigkeit.
Der zweite Mönch kehrte mit Weihrauch zurück, und kurz darauf, als Shizuka stumm auf den Knien betete, kam der Abt persönlich und kniete sich neben sie. Eine ganze Weile schwiegen sie beide. Dann begann der Mann wieder die Sutras für die Toten zu singen.
Shizuka liefen Tränen über die Wangen. Die uralten Worte stiegen zu dem Baldachin auf, den das Laub der Bäume bildete, und vermischten sich mit dem Morgenlied der Spatzen und dem sanften Gurren der Tauben.
Später nahm der Abt Shizuka mit in sein Gemach und schenkte ihr Tee ein. »Ich habe es übernommen, den Stein für ihn anfertigen zu lassen. Ich dachte, das würde dem Wunsch Lord Otoris entsprechen.«
Shizuka starrte ihn an. Sie kannte ihn schon einige Jahre und hatte ihn immer nur fröhlich erlebt. Er war ein Mensch, der sowohl im groben Dialekt mit den Seeleuten scherzen als auch zusammen mit Takeo, Kaede und Ishida Verse von feinsinnigem Humor schmieden konnte. Doch
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