Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
erwähnt«, sagte Bunta. »Ich glaube nicht, dass irgendjemand von ihrer Anwesenheit wusste, auÃer der Mutofamilie in Maruyama.«
»Hast du es gewusst?«
»Ich habe gehört, dass Taku ein Kind bei sich hatte, das man das Kätzchen nannte. Ich habe mir schon gedacht, um wen es sich handelt.«
Shizuka schwieg. Sie kämpfte um Selbstbeherrschung. Auf einmal hatte sie ein Bild aus der Vergangenheit vor Augen: ihren Onkel Kenji an dem Tag, als er erfuhr, dass die Kikuta seine Tochter getötet hatten. Onkel , rief sie seinen Geist an. Du weiÃt, wie ich jetzt leide, und nun fühle ich deinen Schmerz. Gib mir die Kraft weiterzuleben, wie du weitergelebt hast.
Maya. Ich muss an Maya denken. Ich werde nicht an Taku denken, noch nicht. Ich muss Maya retten.
»Reiten wir weiter nach Hofu?«, fragte Bunta.
»Ja, ich muss die Wahrheit herausfinden.« Sie dachte an all die Rituale, die man für die Toten vollziehen musste, fragte sich, wo die Leichen begraben waren, spürte, wie ihr der Zorn die Brust wie mit Stahlbändern zuschnürte, als sie an den Leichnam im Dunkeln unter der Erde dachte, der ihr Sohn gewesen war. »Ist Zenko in Hofu?«, fragte sie und wunderte sich, wie ruhig und klar ihre Worte waren.
»Ja, seine Frau ist vor einer Woche mit dem Schiff nach Hagi aufgebrochen, aber er hält sich noch dort auf. Er kümmert sich um die Handelsabkommen mit den Fremden. Angeblich ist er inzwischen sehr vertraut mit ihnen.«
»Zenko weià bestimmt Bescheid. Wenn es sich wirklich um Räuber gehandelt hat, muss er sie fangen und bestrafen und Maya retten, falls sie noch lebt.«
Doch schon, als sie diese Worte sprach, wusste sie,dass ihr Sohn nicht einfach so von Räubern getötet worden war. Und niemand aus dem Stamm würde Taku etwas tun â niemand auÃer den Kikuta. Akio hatte den Winter in Kumamoto verbracht. Akio hatte mit Zenko in Kontakt gestanden.
Sie konnte nicht glauben, dass Zenko in den Mord an seinem Bruder verstrickt war. Waren denn beide Söhne für sie verloren?
Ich darf ihn nicht verurteilen, bevor ich mit ihm rede.
Bunta berührte sie zögernd am Arm. »Kann ich dir irgendwie helfen? Soll ich dir Wein oder Tee holen?«
Sie wich vor ihm zurück, da sie auÃer Mitgefühl noch etwas anderes in seiner Geste spürte und plötzlich alle Männer für ihre Lust und mörderische Gewalt hasste. »Ich möchte allein sein. Wir brechen beim ersten Tageslicht auf. Sag nichts zu Miki. Ich entscheide, wann ich es ihr sage.«
»Es tut mir wirklich leid«, sagte er. »Alle haben Taku gemocht. Es ist ein schrecklicher Verlust.«
Als seine Schritte verklungen waren, sank Shizuka auf die Veranda und hüllte sich fest in den Mantel. Sie hielt immer noch das Messer in der Hand, und sein vertrautes Gewicht war ihr einziger Trost, ihre einzige Möglichkeit, aus dieser Welt des Schmerzes zu entkommen.
Sie hörte federleichte Schritte auf den Dielen. Miki kroch dicht neben sie und schmiegte sich in ihre Arme.
»Ich dachte, du hättest geschlafen.« Shizuka zog das Mädchen fester an sich und streichelte sein Haar.
»Das Klopfen an der Tür hat mich geweckt, unddann konnte ich nicht anders, als zu lauschen.« Ihr schmaler Körper zitterte. »Maya ist nicht tot. Wenn es so wäre, wüsste ich das.«
»Wo ist sie? Kannst du sie finden?« Shizuka versuchte, sich auf Maya und die Lebenden zu konzentrieren, um nicht zusammenzubrechen. Die hochsensible Miki schien dies zu spüren. Sie sagte nichts zu Takus Tod, sondern half Shizuka auf die Beine.
»Komm und leg dich hin«, sagte sie, als wäre sie die Erwachsene und Shizuka das Kind. »Vielleicht schläfst du nicht, aber du ruhst dich aus. Ich will schlafen, weil Maya im Traum zu mir spricht. Früher oder später wird sie mir sagen, wo sie ist, und dann suche ich sie.«
»Wir sollten nach Hagi zurückkehren. Ich sollte dich zu deiner Mutter zurückbringen.«
»Nein, wir müssen nach Hofu«, flüsterte Miki. »Maya ist noch in Hofu. Wenn du eines Tages feststellst, dass ich weg bin, mach dir keine Sorgen um mich. Ich werde bei Maya sein.«
Sie legten sich hin und Miki schmiegte sich dicht an Shizuka und legte ihr eine Hand auf die Brust. Sie schien einzuschlafen, doch Shizuka lag wach und dachte über das Leben ihres Sohnes nach. Alle Frauen des Stammes und der Kriegerklasse mussten
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