Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
welchem Zweck er erzogen worden war, das Tempo drosselte und sich herumriss, um sich den Reitern zu stellen, die Takeo umzingelten.
Takeo hatte fast vergessen, wie es sich anfühlte, aber auf einmal war alles wieder da: der Wahn, in dem man nur an eines dachte, an Kraft, Geschick und Entschlossenheit, die einen im Kampf überleben lieÃen. Er vergaà sein Alter und seine Behinderungen. Seine linke Hand übernahm die Rolle der verkrüppelten rechten, und Jato sauste wie immer durch die Luft, als hätte es einen eigenen Willen.
Er merkte, dass Hiroshi zu ihm stieÃ. Keris blassgraues Fell war rot von Blut und dann hörte er, wie seine eigene kleine Kriegerschar von allen Seiten herbeigaloppiert kam, Shigeko und Gemba, den Bogen auf dem Rücken, das Schwert in der Hand.
»Reitet weiter«, rief er ihnen zu und lächelte insgeheim, als sie an ihm vorbeischossen und mit dem Abstieg begannen. Shigeko war in Sicherheit, zumindest für heute. Der Kampf verlor an Intensität und er begriff, dass der letzte feindliche Reiter die Flucht ergriff und dass auch die FuÃsoldaten die Beine in die Hand nahmen und Schutz zwischen Felsen und Bäumen suchten.
»Sollen wir sie verfolgen?«, rief Hiroshi, der wieder zu Atem gekommen war und Keri wendete.
»Nein, lasst sie laufen. Saga ist bestimmt schon nahe. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Wir sind jetzt in den Drei Ländern. Heute Abend werden wir bei Kahei sein.«
Dies ist nur ein Scharmützel, dachte Takeo, als er Jato wieder auf dem Gestell ablegte und zur Besinnung kam. Die richtige Schlacht steht noch bevor.
»Sammelt unsere Toten und Verwundeten ein«, befahl er Hiroshi. »Lasst niemanden zurück.« Dann rief er laut: »Mai! Mai!«
An der nördlichen Flanke sah er das Flackern der Unsichtbarkeit, und als Mai wieder zu sehen war, ritt er auf sie zu. Er schwang sie hinter sich auf das Pferd.
»Bist du verletzt?«, rief er über die Schulter.
»Nein«, antwortete sie. »Ich habe drei Männer getötet und zwei verwundet.«
Er spürte ihren schnellen Herzschlag an seinem Rücken. Der Geruch ihres SchweiÃes erinnerte ihn daran, wie lange er nicht mehr bei seiner Frau gelegen hatte. In diesem Moment sehnte er sich nach Kaede, und als er das Tal nach Ãberlebenden absuchte und seine letzten Männer um sich scharte, dachte er nur an sie. Fünf Gefallene und vielleicht sechs Verwundete. Er trauerte um die Toten, denn es handelte sich um Männer, die er seit vielen Jahren gekannt hatte, und er beschloss, sie mit allen Ehren in ihrer jeweiligen Heimat in den Drei Ländern zu bestatten. Sagas gefallene Soldaten lieà er im Tal liegen, ohne ihre Köpfe mitzunehmen oder die Verwundeten zu töten. Am nächsten Tag träfe Saga hier ein und dann â oder spätestens übermorgen â würden sie einander in der Schlacht gegenüberstehen.
Als er unten auf der Ebene Kahei begrüÃte, war er in einer grimmigen Stimmung. Er atmete auf, als er sah, dass Minoru unverletzt war, und ging mit dem Schreiber zu Kaheis Zelt, wo er dem Oberbefehlshaber erzählte, was sich zugetragen hatte. Im Anschluss erörterten sie die Pläne für den nächsten Tag. Hiroshi brachte die Pferde zu den anderen Tieren. Takeo sah, dass seine Tochter beim Kirin war. Sie war blass und wirkte noch schmaler als sonst. Es tat ihm im Herzen weh, sie so zu sehen.
Kitayama traf ein, zerkratzt und mit blauen Flecken, sonst aber unverletzt, und entschuldigte sich vielmals für seine Verspätung.
»Immerhin wissen wir jetzt, dass Saga keinen anderen Weg nehmen kann«, sagte Takeo. »Er muss über den Pass kommen.«
»Wir werden sofort Männer zur Verteidigung hinschicken«, verkündete Kahei.
»Nein, wir lassen ihn offen. Saga soll denken, dass wir auf der Flucht sind, demoralisiert und verwirrt. AuÃerdem muss ganz klar sein, dass er der Aggressor ist. Wir verteidigen die Drei Länder und wenden uns weder gegen ihn noch gegen den Kaiser. Wir können ihn hier nicht bis in alle Ewigkeit aufhalten. Wir müssen ihm eine entscheidende Niederlage zufügen und im Anschluss mit der Armee nach Westen marschieren, um uns Zenko entgegenzustellen. Hast du von Takus Tod erfahren?«
»Ich habe Gerüchte gehört, aber wir haben keine offiziellen Briefe aus Hagi bekommen.«
»Keine Nachricht von meiner Frau?«
»Seit dem fünften Monat nicht
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