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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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hat deine Liebe nicht verdient.
Du wirst bald merken,
welche Art von Mann er in Wahrheit ist.«
    Wie kann sie es wagen, so etwas im Haus meines Vaters zu singen! , dachte Maya. Sie war hin- und hergerissen zwischen dem Drang, sich auf Hana zu stürzen, und dem Wunsch, nach unten zu ihrer Mutter zu laufen.
    Hana legte sich hin und bettete den Kopf auf die hölzerne Kopfstütze. Ich könnte sie jetzt töten! , dachte Maya und tastete nach dem Messer. Sie hätte es verdient ! Aber dann wurde ihr bewusst, dass es besser wäre, diese Bestrafung ihrem Vater zu überlassen. Sie wollte das Zimmer schon verlassen, als sich das Baby regte. Sie kniete sich daneben und sah es an. Der winzige Junge schrie leise auf. Er öffnete die Augen und erwiderte ihren Blick.
    Er kann mich sehen! , dachte sie überrascht. Sie wollte ihn nicht wirklich wecken. Und dann merkte sie, dass sie ihren Blick nicht abwenden konnte. Sie hatte sich nicht mehr unter Kontrolle. Die widersprüchlichen Gefühle, die in ihr und um sie herum tobten, überwältigten sie. Maya betrachtete ihren Bruder mit ihren Kikutaaugen,und er lächelte sie einmal an und schlief dann ein, um niemals wieder zu erwachen.
    Neben ihr sagte Yuki: Komm, wir können jetzt gehen .
    Maya wusste plötzlich, dass dies zu der Rache gehörte, die die Geisterfrau nehmen wollte, Rache an ihrer Mutter, eine schreckliche Buße für eine niemals vernarbte Wunde der Eifersucht. Und sie begriff, dass sie etwas Unverzeihliches getan hatte. Nun gab es für sie keinen Ort mehr außer dem Reich zwischen den Welten, in dem die Geister umherschweiften. Nicht einmal Miki konnte sie mehr retten. Sie beschwor die Katze herauf und gab sich ihr hin, und dann sprang sie durch die Wände, überquerte den Fluss und rannte in den Wald, ohne zu ermüden und ohne zu denken, zurück zu Hisao.
    Yuki folgte ihr, sie schwebte über den Boden, das Geisterkind in den Armen.

KAPITEL 50

    Kaedes Sohn starb in der Nacht vor dem Vollmond der Sommersonnenwende. Säuglinge starben oft und daher war man nicht sehr überrascht. Im Sommer lag es an Durchfall oder Seuchen, im Winter an Erkältungen oder Krupphusten. Im Allgemeinen hielt man es nicht für weise, eine zu große Zuneigung zu so kleinen Kindern zu entwickeln, weil nur wenige das Säuglingsalter überstanden. Kaede versuchte, sich nicht von Trauer überwältigen zu lassen, zumal sie in Abwesenheit ihres Mannes die Herrscherin des Landes war und sich daher keinen Zusammenbruch leisten konnte. Insgeheim wollte sie jedoch nur noch eines: sterben. Sie grübelte die ganze Zeit darüber nach, wo sie versagt hatte, wie dieser schreckliche Verlust hatte eintreten können. Hatte sie ihn zu oft oder zu selten gestillt? Hätte sie ihn nicht allein lassen dürfen? Erst war sie mit Zwillingen gestraft worden, dann mit dem Tod ihres Sohnes. Dr. Ishida versuchte vergeblich, sie davon zu überzeugen, dass es vielleicht keinen bestimmten Grund gab und dass Säuglinge oft einfach so starben.
    Kaede sehnte sich nach Takeos Rückkehr, hatte aber Angst davor, ihm von dem Verlust erzählen zu müssen. Sie sehnte sich danach, wieder bei ihm zu liegen und denvertrauten Trost der Liebe zu spüren, glaubte jedoch, dass sie es nicht mehr ertrüge, ihn in sich aufzunehmen – die Vorstellung, noch einmal mit einem Kind schwanger zu werden, um es dann wieder zu verlieren, war unerträglich.
    Er musste es erfahren, aber wie? Sie wusste ja nicht einmal, wo er sich aufhielt. Ein Brief bräuchte Wochen bis zu ihm. Seit den Briefen, die sie im fünften Monat aus Inuyama von ihm erhalten hatte, hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Sie beschloss jeden Tag, ihm zu schreiben, konnte sich aber nie dazu durchringen. Den ganzen Tag sehnte sie sich nach der Nacht, um sich endlich ihrer Trauer hingeben zu können, und dann lag sie die ganze Nacht über schlaflos da und sehnte sich nach der Dämmerung, weil sie den Schmerz tagsüber für kurze Zeit verdrängen konnte.
    Ihr einziger Trost bestand in der Gesellschaft ihrer Schwester und der Jungen, die sie liebte, als wären es ihre eigenen. Die Kinder lenkten sie ab und sie verbrachte viel Zeit mit ihnen, beaufsichtigte sie beim Lernen und sah ihnen beim Kampftraining zu. Das Baby wurde in Daishoin beerdigt. Der Mond über seinem Grab war zur schmalen Sichel geworden, als endlich Boten mit Briefen von Takeo eintrafen. Als Kaede

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