Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
selbst. Du hast beschlossen, zu gehen und mich im Stich zu lassen, weil du nicht sterben wolltest.«
Diese Worte enthielten eine Wahrheit, die ihn tief beschämte.
»Du hast Recht«, sagte er. »Ich war feige und dumm. Ich kann dich nur um Vergebung bitten. Um des ganzenLandes willen. Ich bitte dich, nicht alles zu zerstören, was wir gemeinsam aufgebaut haben.«
Er wollte ihr erklären, dass sie das Land durch ihre Harmonie zusammengehalten hatten und dass dieses Gleichgewicht nicht zerstört werden durfte. Doch Worte konnten das, was zerbrochen war, nicht mehr zusammenfügen.
»Du hast es selbst zerstört«, erwiderte sie. »Das werde ich dir nie vergeben. Mein Schmerz wird erst nachlassen, wenn du tot bist.« Sie fügte verbittert hinzu: »Ehrenhaft wäre es, wenn du dir das Leben nähmst, aber du bist ja kein Krieger und würdest das nie tun, oder?«
»Ich habe dir versprochen, es nicht zu tun«, sagte er leise.
»Ich entbinde dich von diesem Versprechen. Hier, nimm das Messer! Schneide dir den Bauch auf und dann werde ich dir vergeben!«
Sie hielt ihm das Messer hin und sah ihm in die Augen. Er mochte sie nicht anschauen, um sie nicht in den Kikutaschlaf fallen zu lassen. Er starrte das Messer an und war versucht, es zu ergreifen und in sein Fleisch zu stoÃen. Kein körperlicher Schmerz konnte gröÃer sein als die Qualen, die seine Seele litt.
Er versuchte, sich zu beherrschen, und antwortete so steif, dass er sich selbst nicht wiedererkannte: »Zuerst muss noch einiges geregelt werden. Shigekos Zukunft muss sichergestellt werden. Der Kaiser hat sie persönlich anerkannt. Nun, es gibt vieles, das ich dir erzählen wollte, aber nun habe ich wohl niemals mehr Gelegenheit dazu. Ich bin bereit, zu Gunsten unserer Tochter abzudanken. Ich verlasse mich darauf, dass du mit Zenko eine angemessene Abmachung triffst.«
»Du willst nicht wie ein Krieger kämpfen und du willst nicht wie ein Krieger sterben. Wie tief ich dich verachte! Ich nehme an, du wirst dich als der Zauberer, der du bist, jetzt davonschleichen.«
Sie sprang auf die Beine und rief: »Wache! Hilfe! Hier ist ein Eindringling!«
Durch ihre plötzliche Bewegung erlosch die Lampe. Auf einmal war der Pavillon stockdunkel. Zwischen den Bäumen leuchteten die Laternen der Wachen. Takeo hörte in der Ferne die ersten Hähne krähen. Kaedes Worte hatten ihn genauso verletzt wie Kotaros vergiftete Messerklinge. Er wollte nicht wie ein Dieb oder Flüchtling ertappt werden. Die Vorstellung, noch tiefer gedemütigt zu werden, ertrug er nicht.
Es war ihm noch nie so schwergefallen, sich unsichtbar zu machen. Seine Konzentration war zerbrochen, und er hatte das Gefühl, in Stücke gerissen worden zu sein. Er lief zur Gartenmauer und kletterte hinüber, rannte über den Hof bis zur AuÃenmauer und erklomm sie langsam. Als er oben stand, erblickte er den Schlossgraben, dessen Wasser wie schwarze Tinte glänzte. Im Osten wurde der Himmel blasser.
Hinter ihm ertönten schwere Schritte. Er verlor seine Unsichtbarkeit, hörte das Knarren einer Bogensehne und das Sausen eines Pfeils und fiel mehr in das Wasser, als dass er sprang. Der Aufschlag raubte ihm den Atem, und es sauste in seinen Ohren. Er tauchte auf, schnappte nach Luft, sah den Pfeil neben sich und hörte,wie weitere ins Wasser sausten, tauchte wieder unter und schwamm zum Ufer. Dort hievte er sich in den Schutz der Weiden.
Er holte ein paarmal tief Luft, schüttelte das Wasser ab wie ein Hund, machte sich wieder unsichtbar und lief durch die StraÃen zum Stadttor. Es stand schon offen. Menschen, die die ganze Nacht darauf gewartet hatten, die Stadt verlassen zu können, strömten hindurch. Sie hatten Stangen auf den Schultern, an denen ihr in Bündeln geschnürter Besitz hing, oder sie zogen kleine Karren mit ihren Habseligkeiten. Die Kinder sahen traurig und verwirrt aus.
Takeo hatte Mitleid mit ihnen, weil sie wieder den Kriegsherren ausgeliefert waren. Er versuchte, seine Trauer zu überwinden, und fragte sich, wie er ihnen helfen könnte, hatte aber keine Idee. Sein einziger Gedanke war: Es ist aus.
Im Geist sah er die Gärten und unvergleichlichen Gemälde Terayamas vor sich und hörte die Worte, die Matsuda vor so vielen Jahren gesprochen hatte. Komm zu uns zurück, wenn das alles vorbei ist.
Wird es je vorbei sein? , hatte er damals gefragt.
Alles, was einen
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