Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
selbst das Leben nehmen.«
Takeo lenkte sein Pferd ein Stückchen zur Seite, unfähig, Schock und Verwirrung zu verbergen. Kaheis Frau und Töchter tot, während ihr Mann und Vater die Drei Länder in der Schlacht verteidigt hatte? Yamagata, die Perle des Mittleren Landes, kurz davor, von Kaede an Zenko übergeben zu werden?
Gemba ritt neben Takeo und wartete, bis dieser sprach.
»Ich muss mit meiner Frau reden«, sagte Takeo. »Es muss eine Erklärung dafür geben. Trauer und Einsamkeit haben sie offenbar in den Wahnsinn getrieben. Doch sobald ich bei ihr bin, wird sie wieder Vernunft annehmen. Man wird mir den Zutritt zu Yamagata nicht verwehren. Wir werden uns alle dorthin begeben â hoffentlich rechtzeitig genug, um deine Mutter zu retten«, fügte er an Kintomo gewandt hinzu.
Die StraÃe wurde von immer mehr Menschen verstopft, die vor den Kämpfen aus der Stadt geflohen waren. Daher kamen sie nur langsam voran, was Takeos Wut und Verzweiflung weiter steigerte, und als sie Yamagata am Abend erreichten, war ihnen die Stadt versperrt und die Tore waren verriegelt. Der erste Bote, den sie losschickten, wurde nicht eingelassen. Der zweite wurde von einem Pfeil getötet, sobald er in Schussweite gekommen war.
»Uns sind die Hände gebunden«, sagte der Gefolgsmann der Miyoshi, als sie sich alle in den Schutz des Waldes zurückzogen. »Erlauben Sie mir, den jungen Lord zu seinem Vater zu bringen. Zenko wird morgen hier eintreffen. Sie sollten mit uns den Rückzug antreten, Lord Otori. Sie dürfen keine Gefangennahme riskieren.«
»Gehen Sie«, sagte Takeo. »Ich bleibe noch ein wenig.«
»Dann bleibe ich bei dir«, sagte Gemba. Er umarmte seinen Neffen. Takeo rief Jun und befahl ihm, Kintomo zu begleiten und unversehrt zu Kahei zu bringen.
»Gestatten Sie auch mir, bei Ihnen zu bleiben«, sagte Jun verlegen. »Ich könnte nach Einbruch der Dunkelheit die Mauern überwinden und Ihre Botschaft zu â¦Â«
Takeo schnitt ihm das Wort ab. »Ich danke dir, aber diese Botschaft kann nur ich überbringen. Und jetzt befehle ich dir, mich allein zu lassen.«
»Ich werde Ihnen gehorchen. Aber sobald ich meinen Auftrag erfüllt habe, bin ich wieder bei Ihnen. Lebendig, wenn möglich, und wenn nicht, dann im Tod!«
»Bis dann«, erwiderte Takeo. Er lobte Kintomo für dessen Tapferkeit und Treue und sah zu, wie sich der Junge der nach Osten fliehenden Menschenmenge anschloss.
Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Stadt zu. Gemeinsam mit Gemba ritt er um die östliche Seite herum, bis sie in einem Gehölz hielten. Takeo stieg von Ashige und reichte Gemba die Zügel.
»Warte hier auf mich. Sollte ich im Laufe der Nachtnicht zurückkehren oder die Stadt morgen früh nicht durch das Tor verlassen, kannst du davon ausgehen, dass ich tot bin. Begrabt mich in Terayama neben Shigeru, wenn das möglich ist. Und bewahre mein Schwert für meine Tochter auf!«
Bevor er sich abwandte, fügte er hinzu: »Und sprich diese Gebete für mich, wenn du magst.«
»Das tue ich ununterbrochen«, sagte Gemba.
Bei Anbruch der Nacht kauerte Takeo unter den Bäumen und betrachtete lange die Stadtmauern. Er erinnerte sich an den viele Jahre zurückliegenden Frühlingsnachmittag, als ihm Matsuda Shingen eine theoretische Aufgabe gestellt hatte: wie die Stadt Yamagata einzunehmen wäre. Damals hatte er geglaubt, die beste Lösung bestünde darin, in das Schloss einzudringen und den Befehlshaber zu ermorden. Er war schon einmal in das Schloss von Yamagata geklettert, weil er wissen wollte, ob er es schaffte, ob er das Töten lernen konnte. Er hatte zum ersten Mal einen Mann â mehrere Männer â getötet, wenn auch nur, um ihren Leiden ein Ende zu bereiten. Aber er konnte sich an die Gefühle von Macht und Schuld, Verantwortlichkeit und Reue erinnern. Jetzt würde er seine Kenntnisse der Stadt und des Schlosses ein letztes Mal nutzbringend anwenden.
Er hörte, wie die Pferde hinter ihm das Gras mit ihrem kräftigen Gebiss ausrupften und Gemba auf seine bärenhafte Art vor sich hin brummte. Zwischen den Bäumen rief ein Ziegenmelker. Der Wind lieà kurz die Blätter rauschen, dann trat wieder Stille ein.
Rechts von ihm stand der Neumond des achten Monats über den Bergen. Im Norden konnte er die dunkle Masse des Schlosses erkennen. Darüber tauchten die
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