Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
bester Freund, mehr aber nicht. Sie hatte genug von den Gesprächen über ihre mögliche Heirat mitbekommen, um dies zu wissen, und da sie nun fünfzehn geworden war, war ihr klar, dass man bald Pläne für eine EheschlieÃung schmieden würde, für irgendeine Verbindung, die die Stellung ihrer Familie stärkte und den Wunsch ihres Vaters nach Frieden untermauerte.
All dies ging ihr durch den Kopf, während sie langsam und deutlich den Inhalt der Rolle vorlas. Als sie fertig war, taten den Zwillingen die Hände weh und ihre Augen brannten. Keine von beiden wagte es, noch eine Bemerkung zu machen, und Shigeko wurde milder. Sie korrigierte freundlich die Schreibarbeit, lieà sie die falsch geschriebenen Zeichen nur ein paar Dutzend Mal wiederholen und bot ihnen an, vor dem abendlichen Training noch ein bisschen spazieren zu gehen, denn die Sonne sank über dem Meer und drauÃen war es ein wenig kühler.
Die Zwillinge, nach ihrer strengen Bestrafung kleinlaut, willigten brav ein.
»Wir gehen zum Schrein«, verkündete Shigeko, was ihre Schwestern enorm aufmunterte, denn der Schrein war dem Flussgott und den Pferden geweiht.
»Können wir über das Wehr gehen?«, bettelte Maya.
»Ganz bestimmt nicht«, antwortete Shigeko. »Das Wehr wird nur von Rabauken benutzt, nicht von den Töchtern Lord Otoris. Wir gehen über die Steinbrücke. Ruft Shizuka und bittet sie, uns zu begleiten. Und ein paar Männer sollten wohl besser auch mitkommen.«
»Wir brauchen keine Männer.«
»Dürfen wir unsere Schwerter mitnehmen?«
Maya und Miki hatten gleichzeitig gesprochen.
»Für einen Besuch des Schreins, mitten in Hagi? Da brauchen wir keine Schwerter.«
»Denk an den Ãberfall in Inuyama!«, mahnte Miki.
»Ein Krieger muss jederzeit bereit sein«, ahmte Maya recht treffend Hiroshi nach.
»Vielleicht solltet ihr doch noch ein bisschen Schreiben üben«, sagte Shigeko und machte Anstalten, sich wieder zu setzen.
»Dein Wille geschehe, groÃe Schwester«, beeilte sich Miki zu sagen. »Männer, keine Schwerter.«
Wie immer dachte Shigeko kurz über die Sänfte nach: Sollte sie darauf bestehen, dass die Mädchen ungesehen blieben, oder sollte sie ihnen erlauben, zu Fuà zu gehen? Keine der Schwestern war besonders wild auf die Sänfte, weil man darin unbequem eingepfercht war, aber eigentlich gehörte es sich, getragen zu werden, und sie wusste, ihrer Mutter gefiel es nicht, wenn die Zwillinge gemeinsam in der Ãffentlichkeit auftraten. Andererseits war dies Hagi, ihre Heimatstadt, in der es nicht so zeremoniell und streng zuging wie in Inuyama, und auÃerdem könnte ein FuÃmarsch ihre rastlosen Schwestern ermüden und damit beruhigen. Morgen würde Shizuka Miki zum Mutodorf Kagemura bringen und dann wäre Shigeko mit Maya allein. Um sie ein wenig über ihre Einsamkeit hinwegzutrösten, würde sie ihre neuen Fähigkeiten und ihr geheimes Wissen bewundern und ihr helfen, alles zu lernen, was Miki in der Abwesenheit ihrer Schwester bereits gelernt hatte. Auch Shigeko hatte das Bedürfnis, zu Fuà zu gehen und so eine Weile durch das turbulente Stadtleben abgelenkt zu werden: die schmalen StraÃen und winzigen Läden mit ihrer groÃen Vielfalt an Handwerkserzeugnissen und anderen Produkten â den ersten Sommerfrüchten, Pflaumen und Aprikosen, jungen süÃen Bohnen und grünem Gemüse, Aalen, die in Eimern zuckten, Krabben und kleinen silbernen Fischen, die man auf einen Rost warf, um sie zu garen und im Anschluss sofort zu verspeisen. Dann gab es noch die Hersteller von Lack- und Töpferwaren, von Papier und Seidenkleidern. Hinter der breiten HauptstraÃe, die von den Schlosstoren zur Steinbrücke führte, erstreckte sich eine faszinierende Welt, die die Mädchen nur selten besuchen durften.
Zwei Wachen gingen ihnen voran, zwei folgten. Eine Dienerin trug einen kleinen Bambuskorb mit Weinkrügen und anderen Opfergaben sowie mit Möhren für die Pferde des Schreins. Shizuka ging neben Maya, und Miki leistete Shigeko Gesellschaft. Alle trugen Holzschuhe und leichte Sommergewänder aus Baumwolle. Shigeko hielt einen Sonnenschirm, denn ihre Haut war so weià wie die ihrer Mutter und sie fürchtete die Sonne, doch die Zwillinge hatten die goldene Haut ihres Vaters geerbt und lieÃen sich sowieso nicht dazu bewegen, diese zu schützen.
Die
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