Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
Flut lief gerade ab, als sie die Steinbrücke erreichten, und der Fluss roch nach Salz und Schlamm. Die Brücke war bei dem groÃen Erdbeben zerstört worden. Zur Strafe für den Verrat Arai Daiichis, wie die Leute meinten, denn dieser hatte sich neben jenem groÃen Findling gegen seine Verbündeten, die Otori, gewandt, der die Inschrift trug: Der Clan der Otori heiÃt die Gerechten und die Treuen willkommen. Die Ungerechten und die Untreuen sollen sich in Acht nehmen.
»Und denk nur, was mit ihm passiert ist!«, sagte Maya tief befriedigt, als sie vor dem Stein standen, Wein opferten, dem Flussgott dafür dankten, die Otori zu beschützen, und des Steinmetzen gedachten, der vor langer Zeit unter dem Stein lebendig begraben worden war. Sein Skelett war im Fluss gefunden worden und beim Neubau der Brücke hatte man es wieder eingemauert, unter dem Findling, den man ebenfalls aus den Fluten geborgen hatte. Diese Geschichte erzählte Shizuka den Mädchen oft, und sie erzählte auch von Akane, der Tochter des Steinmetzen. Ab und zu besuchten sie den am Vulkankrater gelegenen Schrein, der zum Gedenken an Akanes tragischen Tod errichtet worden war und an dem ihr Geist von unglücklichen Liebenden angerufen wurde, ob von Männern oder Frauen.
»Trotzdem trauert Shizuka bestimmt um Lord Arai«, sagte Shigeko leise, als sie die Brücke überquert hatten. Für kurze Zeit gingen die Zwillinge nebeneinander. Passanten fielen auf die Knie, als Shigeko vorbeikam, doch vor den Zwillingen wandten sie das Gesicht ab.
»Ich habe um die Liebe getrauert, die wir einst füreinander gehegt haben«, sagte Shizuka. »Und um meine Söhne, die mitansehen mussten, wie ihr Vater starb. Doch Arai hatte mich längst zur Feindin erklärt und meinen Tod befohlen. Sein eigener Tod war da nur das gerechte Ende des Weges, den er aus freien Stücken beschritten hatte.«
»Du weiÃt so viel über jene Zeit!«, rief Shigeko aus.
»Ja, vermutlich mehr als jeder andere«, gab Shizuka zu. »Je älter ich werde, desto klarer steht mir die Vergangenheit vor Augen. Ishida und ich haben alle meine Erinnerungen aufgeschrieben â euer Vater hatte uns darum gebeten.«
»Und du kanntest Lord Shigeru?«
»Nach dem du benannt worden bist. Ja, ich kannte ihn gut. Wir haben uns viele Jahre alles anvertraut und konnten uns auf Gedeih und Verderb aufeinander verlassen.«
»Er war bestimmt ein guter Mann.«
»Ich bin nie wieder jemandem wie ihm begegnet.«
»War er ein besserer Mann als mein Vater?«
»Shigeko! Ich kann mir kein Urteil über deinen Vater anmaÃen!«
»Warum nicht? Du bist seine Cousine. Du kennst ihn besser als die meisten anderen.«
»Takeo ist Shigeru sehr ähnlich: Er ist ein groÃer Mann und ein groÃer Herrscher.«
»Aber �«
»Alle Menschen haben Mängel«, sagte Shizuka. »Dein Vater versucht, die seinen in den Griff zu bekommen, aber anders als Shigeru ist er in seinem Wesen gespalten.«
Shigeko schauderte plötzlich, obwohl die Luft warm war. »Sag nichts weiter! Verzeih, dass ich dich gefragt habe.«
»Stimmt etwas nicht? Hattest du eine Vorahnung?«
»Die habe ich ständig«, antwortete Shigeko leise. »Ich weiÃ, wie viele Menschen meinem Vater nach dem Leben trachten.« Sie zeigte auf die Zwillinge, die schon vor dem Tor des Schreins standen. »Unsere Familie ist genauso gespalten: Wir sind Spiegel seines Wesens. Was wird einmal aus meinen Schwestern werden? Welchen Platz werden sie in der Welt einnehmen?« Sie erschauderte noch einmal und gab sich einen Ruck, um das Thema zu wechseln.
»Ist dein Mann von seiner letzten Reise zurück?«
»Er wird täglich erwartet. Wahrscheinlich ist er schon in Hofu. Ich habe noch nichts gehört.«
»Vater war in Hofu! Vielleicht haben sie sich dort getroffen. Vielleicht kehren sie gemeinsam zurück.« Shigeko drehte sich um und warf einen Blick auf die Bucht. »Morgen steigen wir auf den Hügel und halten Ausschau nach ihrem Schiff.«
Sie betraten das Gelände des Schreins, schritten durch das groÃe Tor, dessen Tragbalken mit Schnitzereien mythischer Tiere und Vögel verziert war, mit Kirin, Houou und Shishi. Der Schrein selbst lag in einem dichten Hain. Hohe Weidenbäume säumten das Flussufer. Auf den anderen drei Seiten wuchsen Eichen und Zedern, letzte Ãberbleibsel
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