Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
antworteten. Sie waren nervös und scheu. Beide hatten frische Bisswunden am Hals und auf den Flanken.
Ein Junge füllte gerade den Wassereimer des Fohlens. »Es wirft ihn absichtlich um«, grummelte er. An einem Arm hatte er Gebissabdrücke und Abschürfungen.
»Hat es dich gebissen?«, fragte Shigeko.
Der Junge nickte. »Und getreten hat es mich auch.« Er zeigte ihr einen blauen Fleck auf seiner Wade.
»Ich weià wirklich nicht, was ich mit diesem Hengstfohlen anfangen soll«, sagte Hiroki. »Es ist immer schon schwierig gewesen, aber nun ist es gefährlich.«
»Es ist schön«, sagte Shigeko und bewunderte die langen Beine und den muskulösen Rücken, den wohlgeformten Kopf und die groÃen Augen.
»Ja, es ist ansehnlich und groàâ unser gröÃtes Pferd. Aber da sein Temperament so unberechenbar ist, weià ich nicht, ob wir es je zureiten oder zur Zucht einsetzen können.«
»Sieht aus, als wollte es sich unbedingt fortpflanzen!«, bemerkte Shizuka und alle lachten, weil das Füllen sich aufführte wie ein stürmischer Zuchthengst.
»Bei den Stuten würde es völlig durchdrehen, fürchte ich«, sagte Hiroki.
Shigeko näherte sich dem Hengstfohlen. Es rollte mit den Augen und legte die Ohren an.
»Passen Sie auf«, warnte Hiroki sie, und im nächsten Moment versuchte das Pferd, sie zu beiÃen.
Als Shigeko auÃer Reichweite seiner Zähne zurückwich, versetzte ihm der Stallbursche einen Schlag. Sie musterte das Tier eine Weile und schwieg.
»Wenn es eingepfercht ist, wird alles nur noch schlimmer«, sagte sie. »Bringen Sie die anderen Fohlen woandershin, damit es die Weide ganz für sich hat. Vielleicht können ihm ein paar alte Stuten Gesellschaft leisten â würde es da nicht ruhiger werden und Benimm lernen?«
»Eine gute Idee. Wir probieren es aus«, sagte der alte Mann und befahl dem Jungen, die anderen beiden Pferde auf die weiter entfernten Weiden zu bringen. »In ein paar Tagen holen wir die Stuten. Das Fohlen wird die Gesellschaft besser zu schätzen wissen, wenn es erst einmal allein ist!«
»Ich werde jeden Tag kommen, um zu sehen, ob es sich nicht doch zähmen lässt«, sagte Shigeko, die überlegte, Hiroshi brieflich um Rat zu bitten. Vielleicht kommt Hiroshi sogar her und hilft mir, es zuzureiten â¦
Als sie zum Schrein zurückkehrten, lächelte Shigeko in sich hinein.
Maya saà mit gesenktem Blick auf der Veranda neben der Dienerin und tat gehorsam. Die Katze, ihrer Schönheit und Lebenskraft beraubt, lag schlaff im Dreck, ein kleiner Haufen Fell.
Der alte Mann schrie auf und eilte stolpernd hin. Er hob sie hoch und drückte sie an sich. Die Katze regte sich ein wenig, erwachte aber nicht.
Shizuka ging sofort zu Maya. »Was hast du getan?«
»Nichts«, antwortete diese. »Die Katze hat mich angeschaut und dann ist sie eingeschlafen.«
»Wach auf, Mikkan«, flehte der alte Mann vergeblich. »Wach auf!«
Shizuka starrte die Katze erschrocken an. Man merkte, wie sehr sie sich zusammenriss, als sie leise sagte: »Sie wacht nicht auf. Jedenfalls nicht so bald. Vielleicht nie mehr.«
»Was ist denn passiert?«, fragte Shigeko. »Was hat Maya mit der Katze gemacht?«
»Ich habe nichts gemacht«, wiederholte Maya, doch als sie den Kopf hob, war ihr Blick hart und strahlend, und als sie den alten Mann ansah, der inzwischen leise weinte, verzog sie abfällig den Mund.
Da begriff Shigeko, und mit einem Gefühl von Ãbelkeit sagte sie: »Ist das eine der geheimen Fähigkeiten? Etwas, das sie im Dorf gelernt hat? Bestimmt irgendein schrecklicher Zauber!«
»Wir reden hier besser nicht davon«, murmelte Shizuka, denn sie waren von den Dienern des Schreins umringt, die die Katze verdattert anstarrten, ihre Amulette befingerten und den Flussgott um Hilfe anriefen. »Lasst uns heimkehren. Maya muss bestraft werden. Aber es könnte zu spät sein.«
»Zu spät für was?«, wollte Shigeko wissen.
»Das erzähle ich später. Ich durchschaue die Fähigkeiten der Kikuta auch nicht ganz. Ich wünschte, dein Vater wäre hier.«
Angesichts des Zorns ihrer Mutter sehnte sich Shigeko noch mehr nach ihrem Vater. Es war später am gleichen Tag: Shizuka war mit den Zwillingen verschwunden, umMaya irgendwie zu bestrafen, und man steckte die beiden über Nacht in
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