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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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jenes Urwaldes, der das Land einst vom Gebirge bis zum Meer bedeckt hatte. Der Lärm der Stadt wich einer Stille, die nur vom Gezwitscher der Vögel durchbrochen wurde. Das schräg einfallende Licht der im Westen stehenden Sonne erhellte mit goldenen Strahlen den Staub zwischen den dicken Stämmen.
    In einem ebenfalls mit reichen Schnitzereien verzierten Stall wieherte gierig ein Schimmel, als er die Besucher sah. Die Zwillinge gingen hin und boten dem heiligen Tier Möhren an, klopften ihm auf den gedrungenen Hals und streichelten es.
    Hinter dem Tempel tauchte ein älterer Mann auf. Er war der Priester und hatte sich schon als Junge ganz dem Dienst des Flussgottes verschrieben, nachdem sein ältester Bruder beim Fischwehr ertrunken war. Er hieß Hiroki. Er war der dritte Sohn von Mori Yusuke, dem Zureiter der Otori. Sein älterer Bruder, Kiyoshige, war der engste Freund Lord Shigerus gewesen und in der Schlacht von Yaegahara ums Leben gekommen.
    Beim Näherkommen lächelte Hiroki. Wie die ganze Stadt hatte auch er Shigeko uneingeschränkt gern, und durch ihre Liebe zu den Pferden bestand ein ganz besonderes Band zwischen den beiden. Er hatte die Tradition seiner Familie gewahrt und sich um die Otoripferde gekümmert, nachdem sein Vater auf der Suche nach denschnellen Pferden der Steppe zum Ende der Welt aufgebrochen war. Yusuke war nie zurückgekehrt, hatte aber einen Zuchthengst geschickt, der Raku und Shun gezeugt hatte, und beide hatte Takeshi, Shigerus jüngerer Bruder, in den Wochen vor seinem Tod zugeritten und trainiert.
    Â»Seid willkommen, Lady!« Wie viele andere Leute übersah er die Zwillinge, als wäre ihr Dasein eine zu große Schande, um wahrgenommen zu werden. Die Mädchen zogen sich in den Schatten der Bäume zurück und behielten den Priester aus ihren undurchdringlichen Augen im Blick. Shigeko spürte, wie zornig sie waren. Besonders Miki hatte ein sehr aufbrausendes Temperament, das sie noch nicht im Griff hatte. Maya war weniger leidenschaftlich, dafür aber wesentlich nachtragender.
    Nachdem man Höflichkeiten ausgetauscht und Shigeko die Opfergaben überreicht hatte, zog Hiroki am Glockenseil, um den Geist zu wecken, und Shigeko betete wie üblich für den Schutz der Pferde. Sie sah sich als Mittlerin der Geschöpfe, die keine Sprache und daher auch keine Gebete kannten, als eine Mittlerin zwischen den Welten des Fleisches und des Geistes.
    Eine halb ausgewachsene Katze jagte auf der Veranda einem abgefallenen Blatt nach. Hiroki nahm sie auf den Arm und streichelte ihren Kopf und ihre Ohren. Die Katze begann aus tiefer Kehle zu schnurren. Ihre Augen waren groß und bernsteinfarben, die Pupillen hatte sie zum Schutz vor der blendenden Sonne zu Schlitzen verengt. Das fahle rostrote Fell hatte schwarze und ingwerfarbene Flecken.
    Â»Sie haben einen neuen Freund!«, rief Shigeko aus.
    Â»Ja, diese Katze hat hier eines Nachts Schutz gesucht und ist dann geblieben. Sie ist ein guter Kamerad, die Pferde mögen sie, und außerdem schüchtert sie die Mäuse so ein, dass diese sich nicht mehr rühren.«
    Eine so hübsche Katze hatte Shigeko noch nie gesehen. Die Farbkontraste ihres Fells waren einmalig. Sie merkte, dass der alte Mann das Tier lieb gewonnen hatte, und das freute sie. Alle seine Angehörigen waren verstorben, und er hatte die Niederlage der Otori bei Yaegahara und die Zerstörung der Stadt durch das Erdbeben miterlebt. Nun galt sein ganzes Interesse dem Dienst am Flussgott und der Pflege der Pferde.
    Die Katze ließ sich eine Weile streicheln und wand sich dann, bis Hiroki sie absetzte. Sie schoss mit gerecktem Schwanz davon.
    Â»Da braut sich ein Sturm zusammen«, sagte Hiroki kichernd. »Sie spürt das Wetter in ihrem Fell.«
    Maya hatte einen Zweig aufgehoben. Sie bückte sich und kratzte damit auf den Blättern herum. Die Katze erstarrte, schaute aufmerksam zu.
    Â»Schauen wir nach den Pferden«, sagte Shigeko. »Komm mit, Shizuka.«
    Miki rannte hinter ihnen her, doch Maya blieb im Schatten hocken und lockte die Katze näher zu sich heran. Die Dienerin wartete geduldig auf der Veranda.
    Eine Ecke der kleinen Weide war mit einem Bambuszaun abgeteilt worden und in dieser Umzäunung befand sich ein schwarzes Fohlen. Seine Hufe hatten den Boden zertrampelt und aufgewühlt, und beim Anblick der Menschen wieherte es schrill und bäumte sich auf. Die beiden anderen jungen Pferde

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