Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
getrennte Zimmer. In der Ferne grollte Donner, und von dort, wo Shigeko mit gesenktem Kopf vor ihrer Mutter kniete, konnte sie den Schimmer auf den goldgeprägten Wänden sehen, wenn weit drauÃen auf dem Meer die Blitze zuckten. Die Katze hatte das Wetter richtig vorhergesagt.
Kaede sagte: »Du hättest sie nicht beide dorthin mitnehmen dürfen! Ich will nicht, dass sie zu zweit in der Ãffentlichkeit gesehen werden, das weiÃt du doch.«
»Vergib mir, Mutter«, flüsterte Shigeko. Sie war es nicht gewohnt, von ihrer Mutter gerügt zu werden, und es traf sie tief. Zugleich machte sie sich Sorgen um die Zwillinge und fand, dass ihre Mutter ungerecht zu ihnen war. »Der Tag war heiÃ. Sie haben fleiÃig gelernt. Sie mussten an die frische Luft.«
»Sie können hier im Garten spielen«, erwiderte Kaede. »Maya muss wieder weggeschickt werden.«
»Dies ist der letzte Sommer, den wir alle gemeinsam in Hagi verbringen«, sagte Shigeko bittend. »Lass sie wenigstens hier, bis Vater kommt.«
»Miki kann man im Zaum halten, aber Maya gerät langsam auÃer Rand und Band«, rief Kaede aus. »Und Strafen prallen einfach an ihr ab. Eine Trennung von ihrer Schwester, dir und ihrem Vater ist vielleicht die beste Art, ihren Trotz zu brechen. AuÃerdem hätten wir dann im Sommer etwas mehr Ruhe!«
»Mutter �«, begann Shigeko, verstummte aber gleich wieder.
»Ich weiÃ, deiner Meinung nach bin ich zu strengmit den beiden«, sagte Kaede nach kurzem Schweigen und näherte sich ihrer Tochter. Sie hob Shigekos Kopf, um ihr Gesicht sehen zu können. Dann zog sie sie an sich und streichelte das lange, seidige Haar.
»Wie schön dein Haar ist! Genau wie meines früher!«
»Sie wünschen sich doch nur, dass du sie liebst«, wagte Shigeko zu sagen, die spürte, wie der Zorn ihrer Mutter verrauchte. »Sie glauben, du hasst sie, weil sie keine Jungen sind.«
»Ich hasse sie nicht«, sagte Kaede. »Ich schäme mich für sie. Zwillinge zu haben ist schrecklich, wie ein Fluch. Meinem Gefühl nach bin ich damit für irgendetwas bestraft worden, mir ist, als wären sie eine Warnung des Himmels. Und wenn so etwas wie die Sache mit der Katze passiert, bekomme ich Angst. Ich denke oft, es wäre besser gewesen, wenn sie bei der Geburt gestorben wären wie die meisten Zwillinge. Doch dein Vater wollte nichts davon hören. Er hat ihnen das Leben geschenkt. Inzwischen frage ich mich aber, was ihnen das nützt. Sie sind die Töchter Lord Otoris und können nicht für immer beim Stamm leben. Sie kommen bald ins heiratsfähige Alter â aber welcher Krieger wird sie zur Frau nehmen? Wer möchte schon eine Zauberin heiraten? Wenn man von ihren Fähigkeiten erführe, würde man sie vielleicht dafür töten.«
Shigeko spürte, wie ihre Mutter zitterte.
»Ich liebe sie«, flüsterte Kaede. »Aber manchmal bereiten sie mir so viel Schmerz und Angst, dass ich wünschte, sie wären tot. AuÃerdem kann ich nicht leugnen, dass ich mich immer nach einem Sohn gesehnt habe. Die Frage, wen du einmal heiraten wirst, quält mich auch. Deinen Vater zu lieben und ihn heiraten zu können, habe ich immer für das gröÃte Glück meines Lebens gehalten. Doch inzwischen weià ich, welchen Preis das hatte. Ich habe in vieler Hinsicht dumm und egoistisch gehandelt. Ich habe gegen alles aufbegehrt, was mir von Kindheit an beigebracht wurde, was man von mir erwartete und mir zu tun riet, und dafür muss ich wohl mein Leben lang büÃen. Du sollst nicht die gleichen Fehler begehen, zumal die Wahl deines Ehemannes, da wir keine Söhne haben und du die Erbin bist, zu einer politischen Frage geworden ist.«
»Ich habe Vater oft sagen hören, er sei froh, dass ein Mädchen â ich â euer Reich erbe.«
»Ja, das behauptet er immer. Um meine Gefühle zu schonen. Alle Männer wünschen sich Söhne.«
Vater offenbar nicht , dachte Shigeko. Doch die ernsten Worte ihrer Mutter, in denen ein Bedauern mitschwang, prägten sich ihr ein.
KAPITEL 11
Die Neuigkeit von Muto Kenjis Tod erreichte Inuyama erst nach einigen Wochen. Die Kikuta wollten sie einerseits so lange wie möglich geheim halten, um die Geiseln retten zu können, brannten aber andererseits darauf, damit zu prahlen, weil sie Otori vor Augen führen wollten, dass er
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