Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
schweigend. Takeo hatte wie erwartet groÃe Schmerzen und er musste an seinen ersten Besuch im Tempel und an all seine Begleiter von damals denken. Besonders deutlich stand ihm Muto Kenji vor Augen, der neueste Name, der den Büchern der Toten hinzugefügt werden musste. Kenji, der sich auf jener Reise als dummer, alter Mann ausgegeben hatte, als Liebhaber des Weins und der Malerei, und der abends Takeoumarmt hatte. Offenbar fange ich an, dich zu mögen. Ich möchte dich nicht verlieren . Kenji, der ihn sowohl verraten als ihm auch das Leben gerettet hatte, der geschworen hatte, ihn zu beschützen, solange er lebte, und der diesen Schwur gehalten hatte, obwohl es oft nach dem Gegenteil ausgesehen hatte. Takeo hatte ein schmerzhaftes Gefühl von Einsamkeit, denn Kenjis Tod hatte eine Lücke in seinem Leben hinterlassen, die niemals gefüllt werden konnte, und er fühlte sich wieder verletzlich, so verletzlich wie anfangs nach dem Kampf gegen Kikuta Kotaro, bei dem seine Hand verkrüppelt worden war. Kenji hatte ihn gelehrt, sich hauptsächlich mit der linken Hand zu verteidigen, hatte ihn zu Beginn seiner Herrschaft über die Drei Länder unterstützt und beraten, hatte ihm zuliebe den Stamm gespalten und vier der fünf Familien unter seine Kontrolle gebracht, alle auÃer den Kikuta, und sich auÃerdem um das Netzwerk der Spione gekümmert, das für seine eigene Sicherheit und die seines Reiches sorgte.
Er musste an Kenjis einzigen lebenden Nachkommen denken, seinen Enkel, der bei den Kikuta lebte.
Mein Sohn , dachte er und empfand dabei wie üblich eine Mischung aus Bedauern, Sehnsucht und Zorn. Er hat seinen Vater oder GroÃvater nie gekannt. Er wird nie die gebotenen Gebete für seine Vorfahren sprechen. Niemand sonst kann Kenjis Gedächtnis ehren. Ob ich nicht doch versuchen sollte, ihn zu mir zu holen?
Aber das hieÃe, die Existenz des Jungen seiner Frau, seinen Töchtern, ja dem ganzen Land zu enthüllen. Es war nun schon so lange ein Geheimnis, dass Takeo nichtwusste, wie er davon reden sollte. Wären die Kikuta doch nur zu Verhandlungen bereit, egal welcher Art, zu irgendeinem Zugeständnis. Kenji hatte dies für möglich gehalten. Er hatte beschlossen, auf Akio zuzugehen, und nun war er tot, und als Folge würden noch zwei junge Menschen sterben. Wie Taku fragte sich auch Takeo, wie viele Attentäter die Kikuta noch übrig hatten, aber anders als Taku heiterte ihn der Gedanke nicht auf, dass ihre Zahl abnahm.
Der Pfad war schmal und die kleine Schar â Sunaomi und seine zwei Gefolgsleute, Takeos zwei Leibwächter vom Stamm, drei weitere Otorikrieger und zwei von Kaheis Männern â ritt in Kette. Doch nachdem sie die Pferde in der Herberge am Fuà des heiligen Berges zurückgelassen hatten, rief Takeo Sunaomi zu sich und erzählte ihm beim Gehen ein wenig von der Geschichte des Tempels, von den dort bestatteten Otorihelden, vom Houou, dem heiligen Vogel, der in den dichten Wäldern hinter dem Tempel nistete, und von den Kriegern, die ihr Leben dem Weg des Houou geweiht hatten.
»Vielleicht schicken wir dich hierher, wenn du älter bist. Meine eigene Tochter kommt seit ihrem neunten Lebensjahr jeden Winter hierher.«
»Ich werde alles tun, was mein Onkel von mir verlangt«, erwiderte der Junge. »Ich würde so gern mit eigenen Augen einen Houou sehen!«
»Wir stehen früh am Morgen auf und gehen zum Hain, bevor wir nach Yamagata zurückkehren. Du wirst bestimmt einen sehen, denn inzwischen gibt es ziemlich viele.«
»Chikara darf mit dem Kirin reisen«, rief Sunaomi aus, »und ich werde die Houou sehen! Das ist nur gerecht. Aber, Onkel, was muss man lernen, um dem Weg des Houou folgen zu können?«
»Die Leute, mit denen wir uns gleich treffen, werden es dir erzählen: Mönche wie Kubo Makoto, Krieger wie Miyoshi Gemba. Der Kern ihrer Lehre besteht im Verzicht auf Gewalt.«
Sunaomi wirkte enttäuscht. »Dann werde ich nicht lernen, wie man mit Bogen und Schwert umgeht? Das bringt uns mein Vater bei und er möchte, dass wir darin zu Meistern werden.«
»Du wirst weiter mit den Söhnen der Krieger in Hagi trainieren oder in Inuyama, wenn wir dort residieren. Aber der Weg des Houou erfordert gröÃere Selbstbeherrschung als alles andere und auÃerdem mehr Kraft, körperlich und geistig. Vielleicht bist du gar nicht dafür geeignet.«
Sunaomis
Weitere Kostenlose Bücher