Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
zu regnen. Das Licht wurde dämmrig und grünlich und plötzlich konnte er der Vorstellung, sich hinzulegen, nicht mehr widerstehen. Makoto besuchte mit Sunaomi einige der jungen Schüler. Jun und Shin saÃen drauÃen, tranken Tee und unterhielten sich leise.
Takeo schlief, und sein Schmerz lieà nach, als wäre er nicht nur von der spirituellen Stille gelindert worden, die ihn umgab, sondern als hätte ihn der Regen weggetrommelt, der stetig auf das Dach fiel. Er träumte nichts, und beim Erwachen hatte er das Gefühl, wieder klar sehen zu können und ein Ziel vor Augen zu haben. Er badete in der heiÃen Quelle und erinnerte sich daran, wie er bei Schnee in genau diesem Teich ein Bad genommen hatte, vor vielen Jahren, als er nach Terayama geflohen war. Nachdem er sich wieder angezogen hatte, betrat er die Veranda in dem Moment, als Makoto und Sunaomi zurückkehrten.
Takeo merkte, dass den Jungen irgendetwas berührt hatte. Er strahlte und seine Augen leuchteten.
»Lord Miyoshi hat mir erzählt, dass er fünf Jahre allein in den Bergen gelebt hat! Die Bären haben ihn gefüttert und in kalten Nächten haben sie sich an ihn geschmiegt, damit er es warm hatte!«
»Ist Gemba da?«, fragte Takeo Makoto.
»Er ist gekommen, während du geschlafen hast. Er wusste, dass du hier bist.«
»Aber wie konnte er das wissen?«, fragte Sunaomi.
»Lord Miyoshi weià das einfach«, antwortete Makoto lachend.
»Hat er es von den Bären erfahren?«
»Gut möglich! Lord Otori, lasst uns jetzt den Abt aufsuchen.«
Takeo lieà Sunaomi bei den Araigefolgsleuten zurück und ging mit Makoto am Speisesaal vorbei, in dem die jüngsten Mönche die Schalen des Abendessens abräumten, überquerte den Bach, den man umgeleitet hatte, damit er an der Küche vorbeiströmte, und trat auf den vor der Haupthalle gelegenen Hof. In dieser Halle schimmerten Hunderte von Lampen und Kerzen rings um die goldene Statue des Erleuchteten, und Takeo bemerkte die reglosen Gestalten, die dort saÃen und meditierten. Sie folgten dem Steg über einen anderen Abzweig des Baches und betraten jene Halle, die die Gemälde Sesshus beherbergte und einen Blick auf den Garten bot. Der Regen hatte nachgelassen, doch die Nacht brach an und die Felsen im Garten waren nur noch dunkle Schatten und kaum mehr zu erkennen. Ein süÃer Duft nach Blüten und feuchter Erde drang in die Halle. Hier war der Wasserfall lauter. Jenseits der Hauptader des Baches, deram Rand des Gartens den Berg hinunterrauschte, stand das Gästehaus für die Frauen, in dem Takeo und Kaede ihre Hochzeitsnacht verbracht hatten. Es war leer, in den Fenstern brannte kein Licht.
Matsuda war bereits in der Halle, er lehnte an dicken Kissen, die vor zwei stummen, reglosen Mönchen lagen. Schon als Takeo ihm zum ersten Mal begegnet war, hatte er alt gewirkt, doch nun schien er die engen Grenzen des Alters, ja des Lebens überschritten und eine Welt des reinen Geistes betreten zu haben.
Takeo fiel auf die Knie und warf sich vor ihm auf den Boden. Matsuda war der einzige Mensch in den Drei Ländern, dem er auf diese Weise Ehre erwies.
»Kommen Sie näher«, sagte Matsuda. »Ich möchte Sie anschauen. Ich möchte Sie anfassen.«
Die Zuneigung in seiner Stimme rührte Takeo tief. Seine Augen begannen zu brennen, als sich der alte Mann vorbeugte und seine Hände umschloss. Matsuda musterte forschend sein Gesicht. Da Takeo sich seiner drohenden Tränen schämte, erwiderte er den Blick nicht, sondern sah über Matsuda hinweg zu den unvergleichlichen Bildern.
Die Zeit ist für sie stehengeblieben , dachte er. Das Pferd, die Kraniche â sie sind immer noch, wie sie waren, und so viele Menschen, die sie gemeinsam mit mir betrachtet haben, sind tot, fortgeflogen wie die Spatzen. Denn eine Tafel war leer und die Legende besagte, die darauf gemalten Vögel hätten so lebensecht gewirkt, dass sie davongeflogen seien.
»Nun macht sich also der Kaiser Gedanken über Sie«, sagte Matsuda.
»Fujiwaras Sohn Kono ist gekommen. Angeblich, um das Gut seines Vaters zu besuchen, doch in Wahrheit, um mich darüber zu informieren, dass ich das Missfallen des Kaisers erregt habe â man hält mich sogar für einen Verbrecher. Ich soll abdanken und ins Exil gehen.«
»Es wundert mich nicht, dass Sie in der Hauptstadt Befürchtungen wecken«, kicherte
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