Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
und trat mit übertriebener Schicklichkeit auf die Bretter der Veranda. Sie kam herein, verneigte sich anmutig vor Shizuka und sagte in der förmlichen Sprache: »Mein Vater wird Ihnen in Kürze zur Verfügung stehen.«
»Also«, sagte Seiko beifällig, »du kannst dich doch benehmen, wenn du willst. Sei wie deine Cousine. Sieh nur, wie hübsch Shizuka aussieht, wie elegant sie angezogen ist. Mit ihrem Charme hat sie das Herz eines mächtigen Kriegers gewonnen. Nie sieht man ihr an, dass sie kämpfen und grausam sein kann wie ein Mann!«
»Ich wollte, ich wäre ein Junge!«, sagte Yuki zu Shizuka.
»Ehrlich gesagt, ich wollte das Gleiche in deinem Alter«, entgegnete Shizuka. »Aber wenn es unser Schicksal ist, in einen Frauenkörper geboren zu sein, dann müssen wir das Beste daraus machen. Sei dankbar, dass du zum Stamm gehörst. Wenn du lernst und hart trainierst, wirst du ein besseres Leben haben als jede Frau aus der Kriegerklasse.« Und wenn du gehorsam bist und genau tust, was man dir sagt.
»Im Sommer werde ich weggehen.« Yukis Augen leuchteten. »Ich gehe zu meinen GroÃeltern ins geheime Dorf.«
»Dort wirst du dich benehmen müssen!«, sagte ihre Mutter. »Dein Vater wird nicht dort sein, du kannst nicht jedes Mal zu ihm laufen, wenn du nicht deinen Willen bekommst.«
»Das wird ihr guttun.« Shizuka erinnerte sich an die Jahre, die sie selbst im Stammesdorf Kagemura verbracht hatte. Dort in den Bergen hinter Yamagata hatte sie ihre Talente entwickelt und alle Fertigkeiten des Stamms gelernt. »Sie hat eine groÃe Zukunft vor sich.«
Noch während sie es sagte, hätte sie die Worte am liebsten zurückgenommen. Ihr war, als hätte sie das Schicksal herausgefordert. Sie fürchtete, dass Yukis Leben tatsächlich kurz sein würde.
»Sei vorsichtig«, sagte sie, als sie hörte, wie ihr Onkel auf die Veranda trat.
»Sie weià nicht, was das Wort bedeutet«, murrte Seiko, doch sie nahm zärtlich Yukis Hand und streichelte sie, bevor sie mit ihr aus dem Raum ging. In diesem Moment sah Shizuka, dass Seiko trotz all ihrer Kritik ihre Tochter so innig liebte wie ihr Mann.
»Willkommen, Shizuka, es ist schon lange her«, sagte der Onkel und gebrauchte die übliche GruÃform nur flüchtig. »Es geht dir gut, hoffe ich.« Sein Blick glitt über sie und sie spürte, dass er alles an ihr sah. Sie schaute ihn ebenso an, ihre Augen waren darin geübt, die geringsten Veränderungen in Ausdruck und Verhalten zu entdecken und die Körpersprache zu lesen. Das war bei Kenji besonders schwierig, weil er so geschickt darin war, sein wahres Ich zu tarnen und alle möglichen anderen Rollen anzunehmen.
»Wir gehen besser hinein«, sagte er. »Dort wird uns niemand hören oder stören.«
Es gab einen verborgenen Raum mitten im Haus hinter einer falschen Wand, die sich öffnete, wenn man einen der Zierknöpfe an den Dachbalken drehte. Kenjischob die Wand mühelos zur Seite und stellte sie von innen wieder an ihren Platz, wobei es kaum ein Geräusch gab. Der Raum war schmal, das Licht schwach. Kenji saà mit gekreuzten Beinen auf dem Boden und Shizuka kniete sich ihm gegenüber. Er zog ein kleines Päckchen aus seinem Gewand und legte es vor sich.
»Das ist ein auÃerordentlich wichtiges Dokument«, sagte er. »Ich habe es gerade selbst aus Inuyama gebracht. Es enthält einen Brief von Sadamu an Noguchi Masayoshi. Ich soll den genauen Inhalt nicht kennen, aber natürlich habe ich ihn geöffnet und gelesen. Du sollst ihn zu Kuroda Shintaro bringen, zu keinem anderen. Er wird ihn Lord Noguchi übergeben.«
Shizuka verneigte sich leicht. »Darf ich wissen, was die Botschaft ist?«
Er antwortete ihr nicht direkt. »Wie steht es zwischen dir und Arai?«
»Ich glaube, er liebt mich«, sagte sie leise. »Er vertraut mir völlig.«
»Das ist sehr befriedigend. Natürlich hat das niemand vorausgesehen, als du nach Kumamoto geschickt wurdest, aber es hätte nicht besser kommen können. Gut gemacht!«
»Danke, Onkel.«
»Und du? Ich hoffe, du verlierst seinetwegen nicht den Verstand?«
»Vielleicht gibt es da eine gewisse Gefahr«, gab Shizuka zu. »Es ist unmöglich, nicht zu reagieren, wenn man von einem solchen Mann geliebt wird.«
Kenji schnaubte missbilligend. »Sei vorsichtig. Er kann sich so
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