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Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels

Titel: Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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klarer denken. Er fragte sich, ob er jetzt ein Gefangener war, ob es ihm erlaubt wäre, an den Wachtposten vorbei hinauszugehen, oder ob er hier festgehalten würde, bis Sadamus Männer ihn abholten. Vermutlich würde der Stamm dann eine beachtliche Geldsumme für ihn verlangen. Denn er war dem Stamm in die Hände gefallen, daran zweifelte er nicht. Der Fuchs war kein Geist, sondern ein Mann mit den erstaunlichen Fähigkeiten des Stamms, die sein Vater ihm beschrieben hatte.
    Shigeru war entsetzt und fasziniert zugleich. Seit dem Gespräch mit seinem Vater, bei dem er von der Existenz seines älteren Bruders erfahren hatte, hatte er geplant, eines Tages mehr über den Stamm und den verlorenen Sohn seines Vaters herauszufinden. Etwas erschien ihm wie vorherbestimmt an dieser Begegnung: Der Mann hatte ihm Jato gebracht. Er schaute zu dem Fuchs hinüber – konnte er der Verlorene sein?
    Eine Frau kam aus dem dunklen Höhleninneren und grüßte sie vertraulich auf der Schwelle.
    Â»Was bringt dich her, Kenji?«
    Â»Ich begleite nur meinen Gefährten nach Hause.« Er erwähnte nicht, wer sein Gefährte war.
    Â»Herr.« Das war ihr einziger Gruß für Shigeru. »Was ist mit seinem Kopf geschehen?«
    Sie musterte Shigeru und er war sicher, dass sie alles an ihm bemerkte, auch das Schwert.
    Â»Nur ein Missgeschick«, antwortete der Fuchs, der Kenji hieß.
    Â»Beim Rasieren geschnitten, was?«, sagte sie mit einem Blick auf Jato und dann auf Kenjis langes Schwert. Sie zog die Augenbrauen hoch.
    Kenji schüttelte leicht den Kopf. »Gibt es etwas zu essen? Es ist drei Tage her …«
    Â»Kein Wunder, dass ihr beide halb tot ausseht. Ich habe Eier und Reis, Farntriebe und Pilze.«
    Â»Das reicht. Und bring uns jetzt Tee.«
    Â»Auch Wein?«
    Â»Gute Idee. Und wenn du schon vom Rasieren sprichst, bring heißes Wasser und ein scharfes Messer.« Er wandte sich an Shigeru: »Wir nehmen Ihnen den Bart ab und suchen Ihnen andere Kleidung. Jeder sieht an Ihren Zügen, dass Sie ein Otori sind, aber dann sind Sie nicht mehr ganz so erkennbar.«
    Sie hockten sich draußen hin. Ein paar Hennen kratzten im Schmutz und zwei Kinder kamen und starrten sie an, bis Kenji sie scherzhaft ansprach, da kicherten sie und liefen davon. Die Frau kam mit einer Schüssel heißem Wasser zurück, Shigeru wusch sein Gesicht darin und ließ sich dann vom Fuchs den kleinen Bart mit einer außerordentlich scharfen Messerklinge abrasieren. Als sie fertig waren, brachte die Frau Stoffreste – von alten Kleidern –, damit sie Gesicht und Hände abtrocknen konnten, bevor sie hineingingen.
    Es war dunkel und rauchig in der Höhle, in der es eine erhöhte Fläche zum Schlafen und Sitzen gab, und die Strohmatten waren relativ sauber. Die Frau brachte Schalen mit Tee. Er war frisch und von überraschend guter Qualität in diesem kleinen, abgelegenen Dorf – aber natürlich war das kein gewöhnliches Dorf, dachte Shigeru, als er die dampfende Flüssigkeit schlürfte und dankbar war für den Tee, doch besorgt wegen der sonstigen Situation. Er beruhigte sich damit, dass er noch seine Waffen hatte. Solange er sie hatte, konnte er sich verteidigen oder sich das Leben nehmen.
    Kenji fragte plötzlich: »Wie alt bist du?«
    Er gebrauchte die vertrauliche Anredeform, die Shigeru überraschte, denn so war er vorher nur von seiner Familie und von Kiyoshige angesprochen worden. Denk jetzt nicht an Kiyoshige.
    Â»Ich bin dieses Jahr achtzehn geworden.« Und Kiyoshige siebzehn.
    Â»Matsudas Unterweisungen haben offenbar viel bewirkt.«
    Â»Du erinnerst dich also an unsere frühere Begegnung?«
    Â»Zum Glück, wie sich herausstellt. Ich wusste, wem ich das Schwert bringen musste.«
    Der heiße Tee und das Feuer ließen Schweiß auf Shigerus Stirn und in seinen Achselhöhlen kribbeln.
    Â»Hat mein Vater es dir gegeben? Hast du ihn sterben sehen?«
    Â»Ja. Er kämpfte tapfer bis zuletzt, hatte aber zu viele Feinde gegen sich und war eingekreist.«
    Â»Wer hat ihn getötet?«
    Â»Ich weiß nicht, wie er heißt, einer von Iidas Kriegern.«
    Wie sonderbar, wenn dieser Mann tatsächlich Shigemoris Sohn wäre. »Wie alt bist du?«, fragte Shigeru.
    Â»Ich bin sechsundzwanzig.«
    Shigeru rechnete in Gedanken: zu jung, um Shigemoris Sohn zu sein, zu alt für den Enkel –

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