Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
nun, der Zufall wäre zu groà gewesen.
»Du heiÃt Kenji?«
»Muto Kenji. Meine Familie ist aus Yamagata.«
Shigeru spürte, wie das Fieber wiederkam und seinen Gedanken eine seltsame Klarheit verlieh. »Und Muto Shizuka ist mit dir verwandt?«, fragte er ausdruckslos.
»Sie ist meine Nichte, die Tochter meines älteren Bruders. Ich glaube, du hast sie im vergangenen Jahr getroffen.«
»Das weiÃt du. Ich nehme an, du weiÃt alles über diese Treffen und Iida Sadamu weià es auch.« Shigeru schob die Hand näher an den Schwertgriff. »Was treibst du für ein Spiel?«
»Warum glaubst du, dass ich spiele?«
Die Frau kam mit Essen und Wein zurück und Shigeru wollte vor ihr nicht mehr sagen.
»Mit mir kannst du dich sicher fühlen, das schwöre ich«, sagte Kenji offenbar aufrichtig. »Iss. Trink.«
Ein ausgehungerter Mann hat keine Skrupel: Sobald Shigeru das Essen roch, konnte er unmöglich widerstehen. Was immer auch vor ihm liegen mochte, mit vollem Magen würde er es besser bestehen. Er trank auch ein wenig Wein und beobachtete Kenji genau in der Hoffnung, der Alkohol würde ihm die Zunge lösen. Doch obwohl der Fuchs doppelt so viel trank wie Shigeru, schien der Wein lediglich sein bleiches Gesicht zu röten. Als sie fertig waren, brachte die Frau das Geschirr weg und kehrte zurück mit der Frage: »Wollt ihr euch jetzt ausruhen? Soll ich die Betten ausbreiten?«
»Welchem Gott ist der Schrein gewidmet?«, fragte Shigeru.
»Hachiman«, antwortete sie. Der Kriegsgott.
»Ich möchte, dass Sutras für die Toten gesprochen werden«, fuhr Shigeru fort. »Und ich würde mich gern von der Befleckung reinigen, bevor ich schlafe.«
»Ich gehe und hole den Priester«, antwortete sie leise.
»Du musst nicht mit mir kommen«, sagte Shigeru zu Kenji. »Du willst wahrscheinlich schlafen.«
»Der Schlaf kann warten«, war die Antwort.
»Es wäre heuchlerisch, für die Seelen der Männer zu beten, die ihr verraten habt, du und der Stamm.«
»Ich habe niemanden verraten«, sagte Kenji ruhig. »Ich wusste, dass Noguchi sich auf die andere Seite schlagen würde, aber ich habe es ihm nicht eingeredet. Iida Sadamu hat das getan, er hat ihm ein Angebot gemacht, das kein vernünftiger Mann ablehnen würde. Iida wurde durch seine Angst vor einem Bündnis zwischen den Otori und den Seishuu zu dieser GroÃzügigkeit gezwungen.«
»Und über dieses Bündnis hat ihn deine Nichte informiert, nachdem sie geschworen hatte, es nicht zu tun! Sie muss es gewesen sein!«
»Du kannst dich nicht empören, wenn Menschen sich so verhalten, wie es ihrer Natur entspricht. Nichts anderes haben sie getan. Du solltest auf dich wütend sein, weil du ihre Natur nicht erkannt hast. Darin ist Sadamu so gut, und deshalb hat er über dich und alle anderen gesiegt und wird das immer tun.«
Shigeru beherrschte nur mit fast sichtbarer Anstrengung seinen Zorn, während das Fieber zurückkam und erneut pochende Schmerzen mit sich brachte. »Falls ich nicht das Gleiche lerne?«
»Nun, du bist noch nicht alt. Das lässt hoffen, dass du noch lernen kannst.«
Shigeru sagte: »Zuerst muss ich für die Toten beten.«
Er ging die paar hundert Schritte zum Schrein. Drinnen war Weihrauch angezündet worden, er lieà sich vom Rauch umfangen und atmete den schweren Duft ein.
Der Priester kam ihm am Höhleneingang entgegen. Er trug rote und weiÃe Gewänder, einen kleinen schwarzen Hut und hatte einen Stock mit Quasten von blassweiÃem Stroh dabei. Trotz seiner religiösen Aufmachung sah er so kriegerisch aus wie die Wachtposten am Tor. Shigeru folgte ihm in den dunklen Innenraum. Ein paar Lampen brannten qualmend vor der Statue des Gottes. Shigeru kniete nieder, nahm Jato aus seinem Gürtel und widmete das Schwert leise Hachiman. Er fing an zu beten. Der Stamm unterhält einen Schrein , dachte er mit fiebriger Logik. Auch sie müssen die Götter achten und die Toten ehren.
»Wie heiÃt der Verstorbene?«, murmelte der Priester.
»Nicht einer, es sind viele«, antwortete Shigeru. »Sie sollen als Krieger des Otoriclans geehrt werden.« Wie viele? , fragte er sich. Viertausend? Fünftausend? Ihn schauderte wieder und er wünschte, er wäre einer von ihnen gewesen. Der Sprechgesang begann; der Rauch brannte ihm in den Augen und
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