Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
dem Geheimen und Ihnen. Ich werde nie mehr töten, es ist mir auch nicht erlaubt, mich zu töten. Ich verstehe, wenn Sie esfür nötig halten, mir das Leben zu nehmen, und ich bete, dass der Geheime Ihnen vergibt.«
Shigeru hörte mit wachsender Bestürzung zu. Harada war offensichtlich völlig aufrichtig. In der Vergangenheit hatte Shigeru den Mann für einen hingebungsvollen Getreuen gehalten. Von allen Männern, die er gekannt hatte, war Harada von einer besonderen Zielstrebigkeit und Einfachheit gewesen. Verstiegene Fantasien waren nichts für ihn, nur die tiefste Ãberzeugung konnte zu diesem auÃergewöhnlichen Schritt führen, um Entlassung aus seiner Verpflichtung zu bitten. Nur eine solche Ãberzeugung, die an Verrücktheit grenzte, konnte ihn tatenlos dabeistehen lassen, während sein Lehnsherr, der Clanführer, angegriffen und beinah ermordet wurde.
Shigeru empfand auch Verlegenheit und eine unbestimmte Art Scham. Sein eigener Krieger hatte ihn im Stich gelassen, während zwei Bauernkinder ihm zu Hilfe gekommen waren. Seine Welt war wirklich auf den Kopf gestellt worden! Und Haradas Welt ebenso. Aber wie konnte der Mann das Leben mit solchen Demütigungen ertragen? Er würde ihm sicher einen Gefallen tun, wenn er ihn in den Tod entlieÃe, wo er mit weiÃen Lichtern und geheimen Göttern verkehren könnte, soviel er wollte.
Harada schien seine Gedanken zu lesen und entblöÃte seinen Hals. Er schloss die Augen, sagte leise ein paar Worte und Shigeru erinnerte sich, dass er sie schon einmal gehört hatte. Nesutoro hatte sie beim Tod seiner Frau, seiner Kinder und Freunde gesprochen, die Gebete der Verborgenen im Moment ihres Todes. Er entsann sich seiner Einsicht, dass der beschnittene Busch umso stärker wächst. Trotz Iidas brutalen Versuchen, die Verborgenen zu vernichten, verbreiteten sie sich immer noch, ihre Zahl wuchs sogar. Shigeru hatte ihren Glauben für die schwer verständliche Ãberzeugung der Unterdrückten gehalten, auf der untersten Stufe der Gesellschaft. Nun sah er ihn bei einem seiner eigenen Krieger.
Seine Hand hatte schon an Jatos Griff gelegen, und gerade hatte er das Schwert schwingen wollen, doch jetzt lieà er die Hand an der Seite herabfallen.
»Ich bitte dich um einen letzten Dienst«, sagte er. »Bring meine Antwort zurück. Wenn das getan ist, entlasse ich dich aus allen Verpflichtungen mir gegenüber. Du gehörst nicht länger dem Otoriclan an.«
Er fand, die Worte klangen schrecklich. Er hatte sie noch nie im Leben zu jemandem gesagt. Harada hatte sich herrenlos gemacht, zu einem Mann der Wellen, wie sie genannt wurden, auf eigenen Wunsch.
»Es wird andere Möglichkeiten geben, wie ich Ihnen dienen kann«, murmelte Harada.
»Geh jetzt«, befahl Shigeru. »Bevor noch jemand weiÃ, dass du gekommen bist. Leb wohl.«
Harada stand auf, murmelte Dankesworte und ging schnell davon. Nach einer Weile kehrte wieder Stille im Schrein ein, nur vom Plätschern des Wassers, dem hohlen Echo des Eimers, dem Wind in den Eichen und dem Rauschen fallender Blätter unterbrochen. Eine Drossel sang laut. Die Luft wurde kalt, fast als würde es Frost geben.
Aus der Ferne hörte Shigeru, dass Leute näher kamen. Das junge Mädchen lief den Hang herauf, gefolgtvon ihrem Vater und den meisten Männern des Dorfs. Sie trugen Stöcke, Knüppel und Hacken und sahen wütend aus.
»Diese Angreifer sind schon früher ins Dorf gekommen«, sagte der Priester. »Sie haben nach Lord Otori gefragt. Wir haben ihnen nichts gesagt, nur, dass sie ihn in Hagi suchen sollten. Aber sie müssen sich im Wald versteckt haben und Ihnen hierher gefolgt sein.«
»Wer würde so etwas wagen?«, rief ein junger Mann.
»Wir wissen, wer es wagen würde!«, antwortete ein anderer und hob seine Sichel. »Wir sollten selbst nach Hagi gehen und protestieren.«
Shigeru erkannte die Toten nicht. Sie trugen keine Wappen auf den Gewändern und ihre entkleideten Körper hatten keine Tätowierungen oder andere Kennzeichen auÃer den Narben alter Wunden. Kenjis Warnung fiel ihm wieder ein.
»Könnten sie StraÃenräuber gewesen sein?«, fragte er den Priester. Wenn solche Banden so nahe bei Hagi offen angriffen, würde man sich mit ihnen befassen müssen.
»Das ist schon möglich«, antwortete der Mann. »Viele Krieger blieben nach Yaegahara
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