Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
niedergekniet war. »Niemand will offen reden. Die Tohan haben überallSpione. Doch diese Männer haben mir ein wenig erzählt. Der Reiher ist eine Warnung, wie der Gastwirt sagte. Es gibt eine Gruppe â eine Bewegung â überall im Mittleren Land. Treue zum Reiher wird sie genannt. Die Tohan versuchen sie auszurotten. In Chigawa und den umliegenden Bezirken waren viele Unruhen. Das alles hat mit den Silberminen zu tun. Die Bewegung ist dort offenbar sehr stark. Das Leben der Bergleute ist immer schwerer geworden, viele laufen davon, fliehen in die Berge. Junge Leute, sogar Kinder werden gezwungen, ihren Platz einzunehmen. Die Männer sagen, es ist Sklaverei und unter den Otori waren sie nie Sklaven.«
Naomi dankte Bunta, fragte aber nicht weiter. Sie spürte, dass sie schon zu viel gehört hatte. Treue zum Reiher â das konnten nur Anhänger von Shigeru sein.
Früh am nächsten Morgen stand sie auf und kam kurz nach Mittag in der Hauptstadt an. Sie hatte diese Reise schon viele Male gemacht, doch sie konnte nie ganz das Gefühl der Bedrohung verscheuchen, das sie beim Anblick von Iidas Schloss mit seinen schwarzen Mauern überkam. Es beherrschte die Stadt, die hohen Wälle wuchsen steil aus dem Graben empor, ihr Spiegelbild schimmerte in dem trägen grünlichen Wasser des Flusses. Eine enge StraÃe führte im Zickzack zur Hauptbrücke. Obwohl sie eine häufige Besucherin und den Wachtposten bekannt war, mussten sie und Sachie aus den Sänften steigen, während sie gründlich durchsucht wurden â obwohl, dachte Naomi verärgert, nur der kleinste und geschmeidigste Attentäter sich darin hätte verstecken können.
Die Durchsuchung war beleidigend, doch Iidas Misstrauen war begründet: Viele wollten ihn tot sehen â tatsächlich würde Naomi, wie sie Shigeru gesagt hatte, ihn selbst umbringen, wenn sie könnte. Aber sie schob alle solche Gedanken von sich und wartete ausdruckslos und ruhig, bis ihr erlaubt wurde, ihren Weg fortzusetzen.
Sie stieg wieder in ihre Sänfte und die Träger gingen durch den Haupthof zum südlichen Hof, wo Iidas Residenz erbaut war. Hier stieg sie noch einmal aus und wurde von zwei Gefährtinnen Lady Iidas empfangen. Die Träger und ihre Gefolgsleute kehrten über die Brücke in die Stadt zurück und Naomi, Sachie und ihre beiden Dienerinnen folgten den Frauen durch das Residenztor und die Stufen hinunter in den Garten, der sich die ganze Strecke bis zum Flussufer hin dehnte.
Ãberall duftete es nach Blumen: Die purpurfarbenen Iris am Bach, der durch den Garten floss, begannen gerade zu blühen und schwere Glyzinienblüten hingen wie Eiszapfen vom Pavillondach.
Naomi und Sachie warteten, während die Dienerinnen ihnen die Sandalen auszogen und Wasser brachten, um ihre FüÃe zu waschen, dann traten sie hinauf auf das polierte Holz der Veranda. Sie war neu und lief um die ganze Residenz und als die FüÃe der Frauen darüberschritten, reagierte der Boden mit kleinen Schreien wie Vogelrufe.
»Was ist das?«, fragte Sachie verwundert eine der Dienerinnen.
»Lord Iida hat die Veranda dieses Jahr anbauen lassen«, war die geflüsterte Antwort. »Der Boden ist ein Wunder, nicht wahr? Noch nicht einmal eine Katzekann darüberlaufen, ohne dass er anfängt zu singen. Wir nennen ihn den Nachtigallenboden.«
»Von so etwas habe ich noch nie gehört«, sagte Naomi und wurde noch bedrückter. Iida hatte sich anscheinend unverwundbar gemacht.
Die Residenz war luxuriös verziert, Blattgold bedeckte die freiliegenden Dachbalken und verzierte das dreifache Eichenblatt auf den Schlusssteinen an der Wand. Die Böden der Gänge bestanden alle aus poliertem Zypressenholz und die Wände waren mit grellen Gemälden von Tigern, Pfauen und anderen exotischen Tieren geschmückt.
Sie gingen schweigend in die innersten Gemächer der Residenz, in die Räume der Frauen. Hier waren die Dekorationen zurückhaltender, zarte Blumen und Fische ersetzten die bunten Tiere. Naomi wurde in den Raum geführt, in dem sie gewöhnlich übernachtete. Die Kisten und Körbe, die ihre Kleider enthielten, Geschenke für Lady Iida, neue Gewänder und Bücher für Mariko, wurden ins Lagerhaus gebracht. Sachie ging mit, um das Auspacken zu überwachen, und Tee wurde in eleganten, blassgrünen Schalen gereicht.
Naomi trank ihn dankbar,
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