Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
entschuldigte er sich und sie blieb allein, während der Tag sich seinem Ende näherte und ein silberner Mond über den Bergen aufstieg, begleitet vom Abendstern.
Die kalte Nachtluft trieb sie schlieÃlich hinein. Sachie war noch aufmerksamer als sonst. Naomi spürte die Sorge ihrer Gefährtin und hätte gern mit ihr geredet, wagte es aber nicht: Wenn sie anfing, ihr Herz auszuschütten, fürchtete sie, alle Beherrschung zu verlieren. Sie badete in den heiÃen Quellen im Mond- und Sternenlicht, sah, wie weià ihre Haut noch durch Dampf und Wasser schimmerte, aà nur wenig und zog sich früh zurück, bevor der Mond auch nur seinen halben Weg über den Himmel zurückgelegt hatte. Fast die ganze Nachtlag sie wach, dachte an den Mond und wie ihr Körper seinem Kreislauf folgte. Wenn der Mond runder wurde, wusste sie, dass sie am fruchtbarsten war â noch ein weiterer Grund, ihn nicht zu sehen, denn jetzt ein Kind zu empfangen, wäre eine Katastrophe. Doch ihr Körper, der nichts von ihren Ãngsten wusste, sehnte sich nach ihm mit seiner eigenen animalischen Unschuld.
Gegen Morgen schlief Naomi ein wenig, wurde aber von den dringlichen Schreien der Spatzen unter den Dachvorsprüngen geweckt, der Frühling trieb die Vögel zum Paaren und zum Nestbau. Leise stand sie auf und zog ein Gewand an, doch nicht leise genug für Sachie, die aufwachte und fragte: »Lady? Kann ich Ihnen etwas holen?«
»Nein, ich werde vor Sonnenaufgang ein wenig drauÃen umhergehen. Dann kehren wir nach Yamagata zurück.«
»Ich komme mit.« Sachie schob ihre Decke zur Seite.
Naomi hörte sich sagen: »Ich gehe nicht weit. Ich wäre lieber allein.«
»Also gut«, antwortete Sachie nach einem Moment.
Ich bin besessen, dachte Naomi und tatsächlich schien sie sich willenlos zu bewegen, als würde sie von Geistern durch den taufeuchten Garten und den Berg hinaufgezogen.
Nie hatte die Welt schöner ausgesehen als in den Minuten, in denen sich der Nebel um die Gipfel allmählich auflöste und das Licht sich von Grau in Gold verwandelte. Naomi hatte umkehren wollen, sobald die Sonne die steile Bergkette im Osten beschien, doch selbst danach, als die Luft wärmer wurde, fand sie Gründe weiterzugehen â nur um die nächste Biegung, nur um die Aussicht über das Tal zu genieÃen â, bis der Weg in eine kleine Lichtung mündete, auf der eine riesige Eiche aus dem Frühjahrsgras ragte.
Shigeru lag auf dem Rücken mit den Armen hinter dem Kopf. Zuerst dachte sie, er schlafe, doch als sie näher kam, sah sie, dass seine Augen weit offen waren.
Es muss ein Traum sein, dachte sie. Ich werde bald erwachen, und sie tat, was sie im Traum getan hätte, legte sich neben ihn, schlang die Arme um ihn, legte den Kopf auf seine Brust und sagte nichts. Sie spürte seinen Herzschlag durch Gewebe und Knochen ihres Gesichts. Sie atmete in seinem Rhythmus. Er drehte sich ein wenig, legte die Arme um sie und barg sein Gesicht in ihrem Haar.
Der Schmerz der Trennung löste sich auf. Sie spürte, wie die Anspannung und Angst der letzten Jahre von ihr wichen. Alles, woran sie denken konnte, war sein Atem, sein Herzschlag, das Drängen und die Härte seines Körpers, ihr vollkommenes Begehren nach ihm und seines nach ihr.
Hinterher dachte sie, jetzt werde ich aufwachen, aber die Szene veränderte sich nicht auf einmal. Die Luft war warm an ihrem Gesicht, die Vögel sangen im Wald, der Boden unter ihr war hart, das Gras feucht.
Shigeru fragte: »Warum bist du hier?«
»Ich bin auf dem Weg nach Inuyama. Ich wollte die Gärten sehen. Ich wusste nicht, dass du hier bist. Matsuda hat es mir gestern Abend gesagt. Ich wollte sofort weggehen, doch heute Morgen zog mich etwas diesenWeg hinauf.« Sie hielt inne und schauderte. »Es war, als wäre ich verzaubert. Du hast mich verhext.«
»Ich könnte das Gleiche sagen. Letzte Nacht konnte ich nicht schlafen â heute wollte ich Matsuda besuchen, bevor ich nach Hagi zurückkehre. Ich hatte vor, das früh zu tun und dann zu meiner Berghütte zurückzukehren â ich habe hier mit Matsuda gelebt, als ich fünfzehn war und sein Schüler. Aber ich musste einfach unter diesem Baum ausruhen. Er hat eine besondere Bedeutung für mich, denn einmal habe ich hier einen Houou gesehen â den heiligen Vogel des Friedens und der Gerechtigkeit. Ich
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