Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
nicht. Sie schauten einander nicht mehr an. Er bückte sich nach seinen Sachen, schob das Schwert in seinen Gürtel und ging den Bergpfad hinauf, während sie den Weg zurückeilte, den sie gekommen war. Ihr Körper war noch erregt von der Begegnung, ihre Gedanken jagten schon unruhig vor Angst durcheinander.
Während der Reise versuchte Naomi sich zu beruhigen, sie bediente sich aller Methoden, die sie seit ihrer Kindheit gelernt hatte, um Geist und Körper wieder zu beherrschen. Sie sagte sich, sie dürfe nie wieder zu einem solchen Treffen gehen, sie müsse aufhören, sich wie ein törichtes Mädchen zu benehmen, das in einen Bauern vernarrt ist. Wenn es eine gemeinsame Zukunft für Shigeru und sie geben sollte, konnte das nur durch Selbstbeherrschung und Diskretion erreicht werden. Aber schon wusste sie tief in Körper und Geist, dass es zu spät war für Diskretion. Sie wusste, sie hatte bereits ein Kind empfangen, ein Kind, nach dem sie sich sehnte, das aber nicht geboren werden durfte.
Sie dachte daran, unverzüglich nach Maruyama zurückzukehren, doch das könnte Iida kränken und sein Misstrauen so verstärken, dass er es Mariko büÃen lieÃ. Sie musste ihre Reise wie geplant fortsetzen. Sie wurde in Inuyama erwartet, Boten waren schon ausgeschickt worden. Iida würde sich nie von irgendwelchen Entschuldigungen, sie sei krank geworden, überzeugen lassen, er wäre nur beleidigt. Sie konnte nichts anderes tun, als ihre Reise fortsetzen â und weiter wie gewohnt heucheln.
Sie kam durch das Herz des Mittleren Landes â die früheren Otorigebiete, die nach der Schlacht von Yaegahara den Tohan übereignet worden waren. Die Bewohner hatten sich den Befehlen widersetzt, Tohan zu werden, und die Grausamkeit von Iidas Clan und seine Unterdrückung am stärksten zu spüren bekommen. Naomi hörte wenig auf der StraÃe und bei ihren Ãbernachtungen in den Gasthöfen, denn die früher so ausgelassenen Menschen waren schweigsam und argwöhnisch geworden, und das aus gutem Grund. Sie sah mehrere Zeichen von kürzlich vorgenommenen Hinrichtungen und in jedem Dorf gab es einen Aushang, auf dem Strafen bei VerstöÃen gegen die neuen Vorschriften aufgelistet waren â zumeist Folter oder Tod. An der Gabelung, wo die nördliche StraÃe nach Chigawa, die östliche nach Inuyama führte, hielten die Sänftenträger für eine Rast vor einem kleinen Gasthaus, das mit Tee, Schüsseln voll Reis und Nudeln und getrocknetem Fisch aufwartete. Als Naomi ausstieg, bemerkte sie einen weiteren Aushang. Daneben hing ein groÃer grauer Reiher, der an den FüÃen aufgehängt war. Er war kaum noch am Leben, flatterte sporadisch mit den Flügeln und öffnete und schloss seinen Schnabel, von Schmerz geschwächt.
Der Anblick empörte Naomi, die unnötige Grausamkeit stieà sie ab. Sie befahl ihren Männern, den Vogel abzuschneiden. Als sie sich ihm näherten, erschrak der Vogel und starb im Kampf gegen ihre Rettungsversuche.Die Männer legten ihn vor Naomi auf den Boden, sie kniete nieder, berührte das stumpfe Federkleid und sah, wie sich die Augen trübten.
Der alte Gastwirt lief herbei und sagte bestürzt: »Lady, Sie sollten ihn nicht berühren. Wir werden alle bestraft werden.«
»Es beleidigt den Himmel, seine Geschöpfe so zu behandeln«, entgegnete sie. »Das bringt bestimmt allen Reisenden Unglück.«
»Es ist nur ein Vogel und wir sind Menschen«, murmelte der Alte.
»Warum quält man einen Vogel? Was soll das bedeuten?«
»Es ist eine Warnung.« Mehr sagte er nicht und sie wusste, um ihn nicht zu gefährden, sollte sie auch nicht darauf bestehen, doch die Erinnerung an den Vorfall belastete sie auf der letzten Etappe der Reise durch die Berge, die Inuyama umgaben. Das schöne Frühlingswetter dauerte an, doch Naomi konnte den blauen Himmel, die leichte südliche Brise nicht genieÃen. Alles war durch den sterbenden Reiher verdunkelt worden.
Die letzte Nacht verbrachte sie in einem kleinen Dorf am Fluss, wenige Stunden von der Hauptstadt entfernt, und während die Mahlzeit bereitet wurde, bat sie Sachie, mit Bunta zu sprechen. Vielleicht konnte er im Dorf etwas erfahren.
Sie und Sachie waren mit dem Essen fertig, als er zurückkam.
»Ich habe ein paar Männer aus Chigawa getroffen«, sagte er leise, nachdem er vor ihr
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