Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
Zwei Nächte verbrachte er im Tempel Shokoji, am dritten Morgen stand er vor Tageslicht bei Vollmond auf und wanderte über den Bergpass direkt nach Osten, wobei er den Katzenaugen genannten Zwillingssternen folgte, bis der Himmel blass wurde und er direkt auf die steigende Sonne zuging. Ihr Licht fiel über das schon braune Gras der Ebene. Auf die Zehntausende, die hier gestorben waren, deutete kaum noch etwas hin, nur gelegentlich lagen dort, wo Füchse und Wölfe gestöbert hatten, Knochen von Pferden und Menschen im Staub. Shigeru erinnerte sich, wie er hier mit Kiyoshige geritten war, wie die jungen Pferde eifrig über die Ebene galoppiert waren â und er erinnerte sich an die Folterszenen, die sie in dem Grenzdorf auf der anderen Seiteangetroffen hatten. Jetzt gehörte dieses ganze Land den Tohan. Ob irgendwelche Verborgene hier überlebt hatten?
Er sah niemanden auf der Ebene, nur Fasane und Kaninchen. Er blieb stehen, trank aus der Quelle, an der er mit Kiyoshige gerastet hatte, und dachte daran, wie der gefolterte Tomasu auf sie zugekrochen war und sie wortlos angefleht hatte, ihm zu helfen. Inzwischen war es Nachmittag und sehr heiÃ. Er ruhte sich eine Weile im Schatten der Kiefern aus und versuchte Bilder von einem Jungen mit Takeshis Gesicht, der langsam über einem Feuer starb, zu verscheuchen. Dann trieb ihn ein innerer Drang weiter. Er folgte einer Fuchsspur, die fast gerade über die lohfarbene Fläche zu dem Berg führte, der nördlich von Chigawa lag. Meistens schlief er nur in den Stunden zwischen Monduntergang und Morgengrauen, wenn es zu dunkel war, um den Weg vor sich zu sehen. Er folgte Bergpfaden, verirrte sich häufig und musste dann zurückgehen. Gelegentlich fragte er sich, ob er je ins Mittlere Land zurückkehren oder in dem undurchdringlichen Wald zu Grunde gehen und niemand wissen würde, was aus ihm geworden war.
Chigawa mied er, nahm den Weg nach Norden und wandte sich dann wieder südlich. Unterwegs traf er nur wenige Leute, doch dort, wo die StraÃe zur Stadt zurückführte, waren Spuren von einer groÃen Menschengruppe, die kürzlich hier gegangen war. Ãste waren abgebrochen, viele FüÃe hatten den Boden platt getreten. Shigeru wollte den Unbekannten auf ihrem Rückweg nicht begegnen. Er suchte nach einer Möglichkeit, nach Osten zu wandern, doch das Land war hier sehr rau, mitviel spitzem Gestein, steilen Schluchten und dichtem Wald. Anscheinend hatte er keine andere Möglichkeit, als dem Weg bis zum Pass zu folgen.
Er bog um eine Ecke und sah etwas Bleiches im Dickicht. Ein Toter lag da, erst vor kurzem war ihm die Kehle durchgeschnitten worden, sein kaum bekleideter, ausgemergelter Körper war noch warm. Shigeru kniete sich neben ihn, sah die Seilspuren an Handgelenk und Hals, die Wunden an den Knien, die abgebrochenen Nägel und abgeschürften Hände und ihm wurde klar, wer vor ihm ging: Dieser Mann hier war Bergarbeiter gewesen, einer von denen, die gezwungen worden waren, in den zahlreichen Silber- und Kupferminen rund um Chigawa zu arbeiten. Er hatte wohl einer Gruppe angehört, die von einer Mine zu einer anderen gebracht wurde, war vor Erschöpfung zusammengebrochen, kaltblütig getötet und unbeerdigt liegengelassen worden.
Er war einmal ein Otori, dachte Shigeru, einer der Tausenden, die sich von mir Schutz erhofft hatten, und ich habe sie enttäuscht.
Er zog die Leiche weiter den Hügel hinauf, fand einen Felsspalt, begrub sie darin, versperrte den Eingang mit Steinen und betete davor. Dann suchte er Wasser, um sich zu säubern und seinen Durst zu stillen. Er fand einen Teich in den Felsen und beschloss, dort ein wenig zu schlafen, um den Bergleuten einen Vorsprung zu geben. Es war windstill, nichts war zu hören auÃer Milanen und Zikaden.
Er erwachte von den gleichen Lauten, trank wieder und ging zum Weg zurück. Als er an den Pass kam, konnte er über Yaegahara zurückschauen und im Norden das Meer sehen. Die Sonne stand tief im Westen, in etwa zwei Stunden würde sie untergehen â doch er plante sowieso, die ganze Nacht nach Süden zu wandern zu den Bergen hinter Inuyama.
In der kühleren Luft stieg er schnell hinab, wobei er immer auf Geräusche von Menschen vor sich horchte, doch er war fast schon im Tal und das Licht schwand, als er plötzlich auf den Trupp mit den Bergleuten stieÃ.
Sie hatten sich zum Rasten an einem kleinen Teich
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