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Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels

Titel: Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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indem er trockenes Gras und Zweige auf die glimmende Holzkohle legte. Er schien es nicht eilig zu haben weiterzugehen, legte sich auf den Rücken und sagte: »Es gibt nicht viele Annehmlichkeiten, die sich hiermit vergleichen lassen.«
    Shigeru lehnte sich mit den Händen hinter dem Kopf an den Eichenstamm. Matsuda hatte Recht, fand er. Es war angenehm, draußen zu sein, von niemandem gekannt, weder von Gefolgsleuten noch von Bediensteten gestört zu werden, sich frei zu bewegen, zu wissen, wer man wirklich war. Nach einer Weile schlief der Alte ein. Auch Shigerus Augen wurden schwer, aber er hielt es fürunvorsichtig einzuschlafen. Er wollte nicht im Schlaf überrascht und von Räubern getötet werden. Er schaute hinauf in die Äste der Eiche. Sie breiteten sich über seinem Kopf aus und schienen den Himmel zu berühren. Der Baum war von einer fast heiligen Erhabenheit. An ihm hinaufzuschauen hob den eigenen Geist zum Himmel und regte ihn an, sich eine bisher unbekannte Welt vorzustellen, die um ihn herum existierte und die er nie bemerkt hatte. Spinnweben streckten sich zwischen den Zweigen und fingen die Sonnenstrahlen auf, während der Südwind sie berührte. Insekten summten um den Baum und Vögel flatterten zwischen seinen Blättern … Und immer zirpten die Zikaden, das ständige Geräusch des Sommers. Der Baum war eine ganze Welt für diese Geschöpfe, die ihnen Nahrung und Obdach gab.
    Vom warmen Nachmittag und seinen unzähligen Geräuschen eingelullt, sank Shigeru in eine Art Tagtraum. Die Sonne funkelte durch die gefleckten Blätter; selbst wenn er die Augen schloss, sah er immer noch dasselbe Muster, schwarz gegen das Rot seiner Lider.
    Er hörte einen lauten, ihm fremden Vogelruf in den Ästen über ihm und öffnete die Augen. Direkt über ihm saß ein Vogel, den er bisher nur auf Bildern gesehen hatte, doch er erkannte ihn sofort: Es war der Houou, der heilige Vogel, der erscheint, wenn in einem Land unter einer gerechten Regierung Frieden herrscht. Für die Otori hatte er eine besondere Bedeutung, denn sie schrieben ihren Namen mit dem gleichen Schriftzeichen, seit der Kaiser ihn ihnen verliehen hatte. Das war zur selben Zeit gewesen, zu der Takeyoshi das Schwert Jato erhalten und eine der Konkubinen des Kaisers geheiratet hatte. Shigeru sah die rote Brust des Vogels, den Schwung seiner Flügel, die hellen goldenen Augen.
    Der Houou schaute ihn mit diesen hellen Augen an, öffnete den gelben Schnabel und rief wieder. Alle anderen Geräusche verstummten. Shigeru saß wie erstarrt da und wagte kaum zu atmen.
    Ein leichter Wind ließ die Blätter tanzen, ein Sonnenstrahl traf seine Augen und blendete ihn. Als er den Kopf drehte, um wieder hinzuschauen, war der Vogel verschwunden.
    Er sprang auf die Füße, spähte in das dichte Laub und weckte dabei Matsuda.
    Â»Was ist?«, fragte der Alte.
    Â»Ich glaubte, ich sehe … ich muss geträumt haben.« Shigeru war halb beschämt, vielleicht war er trotz seiner guten Vorsätze doch eingeschlafen. Aber der Traum war so lebendig gewesen – und eine Erscheinung selbst im Traum war nicht zu unterschätzen.
    Matsuda stand auf und bückte sich, um etwas vom Boden aufzuheben. Er streckte Shigeru die Hand entgegen. Darauf lag eine einzelne Feder, weiß mit roten Rändern, als wäre sie in Blut getaucht worden. »Ein Houou ist hier gewesen«, sagte er leise. Er nickte zwei- oder dreimal und knurrte befriedigt. »Die richtige Zeit, die richtige Person«, sagte er, doch mehr erklärte er nicht. Er steckte die Feder sorgfältig in seinen Ärmel.
    Â»Ich habe ihn gesehen«, sagte Shigeru aufgeregt. »Genau über mir, er hat mich direkt angeschaut. Gibt es ihn? Ich dachte, er wäre nur ein Mythos, etwas aus der Vergangenheit.«
    Â»Die Vergangenheit ist stets um uns herum«, entgegnete Matsuda. »Und die Zukunft … Manchmal ist es uns gestattet, in beide zu schauen. Manche Orte wirken wie Kreuzungen; dieser Baum hat häufig bewiesen, dass er dazu gehört.«
    Shigeru schwieg. Er hätte den Älteren gern gefragt, was der Traum bedeutete, aber seine Worte hatten die Erinnerung bereits geschwächt und er wollte sie nicht ganz verlieren.
    Â»Der Houou bedeutet den Otori viel«, sagte Matsuda, »aber es ist lange her, seit einer in den Drei Ländern gesehen wurde. Bestimmt nicht, seit ich lebe. Es gibt

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